Leseprobe Aschereide

Prolog

Gelassen streckte Term die rechte Hand aus, so als würde er etwas in Empfang nehmen.

Übergangslos entstand aus dem Nichts ein winziger Punkt, der über seinen Fingerspitzen schwebte und von einer Schwärze war, die alles Licht zu schlucken schien. Langsam dehnte sich das Gebilde aus und schwoll zu einer Kugel an, die wie ein herausgeschälter Teil der absoluten Finsternis wirkte.

+Bist du stark genug?+ wisperte die Stimme des Partners im Bewusstsein des TRÄGERS.

+Stark genug für dich!+ gab der Diener gemäß dem festgesetzten Ritus zurück.

Als Antwort schwebte das auf Faustgröße angewachsenen Gebilde in die ausgestreckte Hand des Mannes.

Er umfasste die Kugel und wurde innerhalb eines Augenblickes zu einem dunklen, dreidimensionalen Schatten.

Die Liaison war erfolgt, keine Sekunde zu früh...

 

 

1. Kapitel



 

Denara saß auf dem wackligen Hocker vor ihrer Holzhütte, die auf einer leichten Anhöhe stand und blickte auf die Große Ebene hinab.

Ihr rechtes Auge, das vor einiger Zeit durch den grauen Star erblindet war, triefte fortwährend und zwang die Alte dazu, sich von Zeit zu Zeit mit einer schon automatisch gewordenen Bewegung die Tränen aus dem verrunzeltem Gesicht zu wischen.

Denara lebte schon fast eine Dekade hier und wurde von den Bewohnern Da`Landres versorgt, denen sie lange Zeit mit ihren Gaben als Heilerin gedient hatte.

Wohlig ließ sie sich von den Strahlen der untergehenden Sonne wärmen und beobachtete schläfrig einen Sumner, der sich auf ihrer linken Hand niedergelassen hatte.

Während der Heißen Zeit kamen diese Stachel bewehrten Insekten von der Großen Ebene nach Da`Landre und machten den Mehahnahala, kurz `hala genannt, das Leben schwer.

Für den Bruchteil einer Sekunde weiteten sich die Pupillen der Alten derart, dass die Iris und das Weiße nicht mehr zu sehen waren.

Im selben Moment fiel der Sumner, den sie mit einem Wunsch getötet hatte, leblos von ihrer knotigen Hand zu Boden.

Noch vor wenigen Jahren konnten sich diese Plagegeister der Heilerin nicht mehr als drei Fuß nähern, ohne zu verbrennen.

Dies war die Wirkung eines Wunsches gewesen, den sie in ihrer Jugend nach einem Insektenstich wutentbrannt formulierte.

Denara hatte früher über mächtige Gaben verfügt, doch als sie alt wurde, ließen diese immer mehr nach. Schließlich war sie nicht einmal mehr in der Lage gewesen, sich selbst zu helfen, als der graue Star und die Gicht ihr zusetzten.

Zuletzt war die Heilerin immer eigenwilliger geworden. Nachdem sie wegen ihres zänkischen Wesens, das von den Gebrechen rührte, dauernd mit den Bewohnern von Da`Landre in Streit geriet, wählte sie das Eremitendasein am Rande der Großen Ebene.

Die Greisin seufzte resignierend, als sie daran dachte, wie schwach ihre Kräfte geworden waren.

Im Alter von 15 Jahren hatte sie mit ihren Gaben einen betrunkenen Reiser getötet, der ihr ans Mieder wollte, als sie ihm in der Herberge ihres Vaters das Zimmer bereitete.

Noch heute spürte Denara den unbändigen Zorn, der sie damals packte, als der Mann mit Gewalt in sie eindringen wollte. Wie einen Peitschenhieb hatte sie ihm ihre Wut entgegengeschleudert, verpackt in dem Wunsch, er möge sterben.

Es hatte einiger Tage bedurft, das Zimmer wieder bewohnbar zu machen, da der Wunsch den Reiser zerfetzte, als hätte ihn ein Riese wie ein Stück Stoff zerrissen.

Nun reichte ihre Kraft gerade noch dazu aus, sich einzelner Insekten zu erwehren, die sie sekierten.

Ächzend stand das greise Weib auf, als der junge Senar, Sohn des Schmiedes Ker kam, um ihr das Essen zu bringen. Die Bewohner des Dorfes versorgten ihre Heilerinnen bis zu deren Tod, so war es immer schon gewesen.

"Du bist spät dran, Rotzjunge!" keifte sie und schlurfte zum Eingang ihrer Hütte.

"Auch nicht später als sonst, Amme Denara", behauptete Senar, "es kommt dir nur so vor, weil dir langweilig ist".

Die Greisin bedachte den Halbwüchsigen mit einem giftigen Blick aus ihrem gesunden Auge und keifte: "Es wäre klüger gewesen, ich hätte deinen Vater bei seiner Geburt verrecken lassen, dann müsste ich mich heute nicht mit dir herumärgern!"

Senar grinste, weil er wusste, dass es die Alte nicht so meinte und ging mit ihr in die Hütte.

Mühevoll kaute Denara auf dem Brot herum, das der Junge ihr gebracht hatte und verwünschte die Tatsache, dass sie nur noch drei Zähne besaß.

"Bald wirst du nur noch Getreidebrei verzehren können", prophezeite ihr der Sohn des Schmiedes mit schelmischen Grinsen, was  die Greisin dazu veranlasste, sich auszumalen, welche Torturen sie dem Rotzbengel angedeihen lassen würde, wenn sie noch über ihre alte Kraft verfügt hätte.

Finster musterte sie ihn, doch schon nach kurzer Zeit besiegte die Neugierde ihren Groll.

"Was gibt es neues im Dorf?" fragte die Alte wie jeden Tag, wobei man sie noch schlechter als sonst verstand, da sie mit vollem Mund redete.

Mit leichtem Ekel schaute Senar zu, wie dem Weib einige durchgekaute Brotkrumen aus dem Mund fielen und auf dem Tisch landeten.

"Was gibt es neues im Dorf?" wiederholte Denara, da sie annahm, der Junge hätte sie beim ersten Mal nicht verstanden.

Anders als sonst, wo der Halbwüchsige auf diese Frage nur mit den Schultern zuckte, meinte er heute: "Keliath sagt, die Zeit für die Suche nach den Aschereide werde bald kommen."

Keliath war einer der vier Informierten. Die Bewohner von Da` Landre waren sehr stolz darauf, dass er aus ihrem Dorf stammte.

Denara hob interessiert die Brauen und ermunterte den Sohn des Schmiedes dadurch, weiter zusprechen.

"Er meint, alles deute darauf hin, dass die Heimsuchung kurz bevorsteht."

Nachdenklich lehnte sich die Heilerin zurück. Sie wusste um die Alten Schriften, die in der Großen Bibliothek in Grat`Hala aufbewahrt wurden und in denen von einer Heimsuchung die Rede war. Diese Aufzeichnungen existierten schon mehr als 1500 Jahre und stammten aus der Unerklärlichen Zeit, über die kaum etwas bekannt war.

Es hieß, dass die `hala damals anders gelebt hatten und viele seltsame Dinge besaßen.

"Wie kommt er darauf?" fragte die Alte.

"Keine Ahnung," entgegnete Senar achselzuckend, "aber ich weiß noch etwas, das dich bestimmt interessiert..."

Der Junge machte eine Kunstpause, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und genoß sichtlich den gespannten Gesichtsausdruck der Greisin.

"Nun rede schon!" keifte die Alte ungeduldig.

"Es findet bald eine Zusammenkunft der Informierten in Grat`Hala statt."

Zufrieden registrierte der Halbwüchsige, dass sich Denaras Augen erstaunt weiteten. Gewöhnlich trafen sich die Erhabenen nur, wenn es galt, einen aus ihrer Mitte zu ersetzen.

Dies war dann der Fall, wenn einer der vier gestorben oder seine Kraft so geschwunden war, dass er vom Schrein nicht mehr akzeptiert wurde.

"Wird einer ausgewechselt?"

"Nein. Du weißt doch dass Keliath, der älteste von ihnen, erst knapp über Hundert ist. Da wird es sicher noch einige Jahre dauern, bis seine Gaben nachlassen", belehrte sie Senar altklug und fuhr in verschwörerischem Tonfall fort:

"Sie kommen wegen der Heimsuchung zusammen. Du wirst sehen, sie steht kurz bevor, die Alten Schriften lügen nicht."

"Die Alten Schriften!" schnaubte die Heilerin verächtlich,

"Sie bestehen fast ausschließlich aus dummen Gewäsch, das den Informierten seit 1300 Jahren dazu dient, die `hala bei der Stange zu halten."

"So darfst du nicht reden, Denara", tadelte sie der Junge, "das ist Frevel!" 

"Frevel? Das ist die Wahrheit! Und die haben diese so genannten Informierten beileibe nicht für sich alleine gepachtet!" schnappte die Greisin.

Der Sohn des Schmiedes verzog das Gesicht, weil er wie jeder `hala die Verehrung für die Elite seines Volkes schon mit der Muttermilch aufgesogen hatte.

"Ich geh' jetzt lieber, Amme Denara, bis morgen", versetzte er deshalb in beleidigtem Tonfall und trat zur Türe hinaus.

Die Alte schien ihn nicht mehr wahrzunehmen. Einige Zeit saß sie zusammengesunken auf dem Stuhl am Küchentisch und starrte ins Leere. Plötzlich straffte sich der von der Last der Jahre gebeugte Körper der Greisin.

"Es stimmt", murmelte sie. "Die Alten Schriften lügen nicht. Die Heimsuchung wird kommen und das wird schneller geschehen als diese Narren ihre Zusammenkunft einberufen können".

Mühsam erhob sich Denara und ging wieder vor die Hütte, wo die Sonne allmählich auf der anderen Seite der Großen Ebene unterging.

Fröstelnd starrte sie auf die riesige, von Wiesen und Bäumen bewachsene Fläche hinab und zog die Lumpen, die sie trug, enger um ihren ausgemergelten Körper.

Trotz der Heißen Zeit fror die alte Heilerin, als sie daran dachte, was ihrem Volk bevorstand.

 

 

*

 

"Heute hast du es aber nicht lange bei ihr ausgehalten", stellte Ker schmunzelnd fest, als sein Sprössling die Schmiede betrat.

Dieser betrachtete stolz den von Schweiß glänzenden, Muskel bepackten Oberkörper seines Vaters, der gerade ein Eisen für ein Wagenrad schmiedete.

"Sie war heute wieder reichlich übellaunig, außerdem vertrage ich es nicht, dass sie ständig gegen die Erhabenen wettert", murrte der Junge.

"Tja, es ärgert die Alte wohl immer noch, dass die Informierten sie nicht in ihren Kreis aufgenommen haben", vermutete Ker, während er den Blasebalg betätigte, so dass das Feuer in der Esse hell aufloderte.

"Denara als Informierte?" Der Junge schüttete sich aus vor Lachen, als er sich das zahnlückige Weib in dieser Würde vorstellte.

"Das war nur Spaß, oder?" meinte er dann, nachdem er sich wieder beruhigt hatte.

"Nein, keineswegs. Ich wette sogar, dass sie alle in den Schatten

gestellt hätte, damals, als sie noch jung war. Aber eine Frau im Kreis der Erhabenen, das ist undenkbar!" erklärte Ker und hieb wieder kräftig auf das glühende Eisen.

"Warum ist das undenkbar, Vater?" 

Der Schmied hörte auf das Eisen zu malträtieren und sah seinen Sohn überrascht an.

"Na ja, es geht einfach nicht", meinte er, schaute noch einen Moment nachdenklich, zuckte dann mit den Schultern und hieb erneut auf das glühende Eisen ein.

"Und was ist mit Era, wäre sie nicht geeignet für dieses Amt?" erkundigte sich Senar unschuldig.

Der Schmied fuhr zusammen und schlug daneben, wobei ihm beinahe der Hammer aus der Hand gefallen wäre.

"Willst du mich auf den Arm nehmen, du Rotzbengel? Drohend ging der schweißglänzende Hüne einen Schritt auf seinen Sohn zu.

Senar hatte keine Angst, da er wusste, dass sein Vater ihn nie züchtigen würde.

"Ich meine ja nur, weil bei ihr die Gaben besonders ausgeprägt sind. Ich kenne weit und breit niemanden, der so damit gesegnet ist wie sie."

"Bei Era zweifle ich daran, dass es ein Segen ist, dass sie die

Gaben besitzt", polterte der Schmied.

Der Junge grinste, als er daran denken musste, wie Era mit einem Wunsch dem Bäcker Regah zwei Tage das Urinieren unterbunden hatte, als er sie beim beim Stehlen erwischte und ihr deshalb mit dem Lederriemen eins überzog.

"Sie kann ihre Abstammung von dem alten Ekel Denara eben nicht verleugnen", stellte der Halbwüchsige ironisch fest.

"So ist es auch wieder nicht!" wies Ker seinen Sohn zurecht.

"Denara hat viel für uns getan und niemand hätte von ihr verlangt, Da`Landre zu verlassen, als ihre Gaben schwanden und sie wunderlich wurde."

"Ist schon gut, Vater, so war's nicht gemeint!" lenkte Senar ein, während er zusah, die Schmiede wieder zu verlassen, ehe seinem Erzeuger noch eine Arbeit für ihn einfallen konnte.

"Ich geh nach draußen", rief er Ker noch zu und huschte flugs durch die Tür ins Freie.

"Oh, hallo Era!" stammelte der Junge überrascht, als er vor der Schmiede beinahe mit einem schlacksigen, schwarzhaarigen Mädchen zusammengestoßen wäre.

"Oh, hallo Senar!" äffte sie ihn nach, wobei ihre dunklen Augen zornig funkelten.

"Ähem, wie geht es dir?" fragte der Sohn des Schmiedes das etwa 16jährige Mädchen verlegen.

"Weißt du, ich habe Ohrensausen, das kriege ich jedes mal, wenn schlecht über mich gesprochen wird", meinte sie und schob ihr Kinn angriffslustig vor.

Betreten senkte der Junge den Kopf und schielte auf die Füße des Mädchens, die vor Dreck starrten.

Auch ansonsten war Era keine gepflegte Erscheinung. Sie trug ein abgerissenes Leinenkleid, dessen ursprüngliche Farbe kaum mehr zu erahnen war. Die langen Haare fielen zottelig über ihre Schultern und einen Teil des durchaus hübschen Gesichts, das allerdings Wasser und Seife vertragen hätte.

"Wie meinst du das?" fragte Senar unbehaglich.

Era sah ihm ins Gesicht und der Zorn, der eben noch in ihren Augen stand, verflog.

Sie versetzte ihrem Gefährten einen freundschaftlichen Stoß vor die Brust und meinte: "Spiel nicht das Unschuldslamm, Alter!"

"Meinst du vielleicht das, weil ich gesagt habe, du könntest deine Abstammung von Denara nicht verleugnen?", erkundigte sich der Junge mit geheucheltem Erstaunen.

"Siehst du, jetzt kommen wir der Sache schon näher", stellte  

seine Freundin im Tonfall eines Beauftragten fest, der gerade einen Dieb verhört.

"Ach, das war doch nicht so gemeint, das weißt du doch!"

"Schon vergessen", erklärte sie großmütig, während sich Senar unbehaglich umschaute. Er hatte Angst, dass sein Vater ihn mit Era sah, da dieser ihm den Umgang mit dem Mädchen untersagt hatte.

Da die Luft rein war, gingen sie gemächlich die staubige Dorfstraße hinunter.

"Wie geht's denn dem alten Miststück?"

"Du solltest nicht so über Denara reden, schließlich ist sie deine Urgroßmutter!" tadelte sie Senar.

"Ich kann sie nicht ausstehen!" presste Era zwischen den Zähnen hervor. Für einen kleinen Moment wurden ihre Pupillen so weit, dass die Iris und das Weiße nicht mehr zu sehen waren. Ein zotteliger Hund, der am Straßenrand gedöst hatte, ergriff aufjaulend die Flucht, als ihm das Mädchen mit einem Wunsch Schmerzen zugefügte, um ihrem Zorn ein Ventil zu schaffen.

Senar wusste, dass seine Freundin zwölf Jahre ihres Lebens bei der Alten verbracht hatte.

Eras Mutter hatte das Kind, als es ein gutes Jahr war, vor Denaras Hütte gelegt und war mit einem wohlhabenden Reiser, der einige Tage in Da`Landre seine Waren verkauft hatte, auf Nimmerwiedersehen verschwunden.

Die Alte gab sich damals redlich Mühe, das Kind gut aufzuziehen, aber es hatte auch viel unter der zänkischen Art ihrer Urgroßmutter zu leiden.

"Das alte Miststück konnte es nie verwinden, dass ich die Gaben

erbte, die meiner Mutter und deren Mutter versagt blieben.

Außerdem wurmte es sie, dass sie bei mir immer stärker wurden, während sie bei ihr schwanden", wetterte Era.

Senar nickte nur, er hatte diese Beschwerden schon ein dutzend mal von dem Mädchen gehört.

"Dein Vater hat dir den Umgang mit mir verboten, nicht wahr?"

fragte sie plötzlich.

Der Junge errötete und suchte fieberhaft nach Ausflüchten um sich um eine Antwort zu drücken.

"Ich habe dich etwas gefragt, Alter!" Era blieb stehen und sah Senar ins Gesicht.

"Äh, nicht direkt," druckste der Sohn des Schmiedes herum, "es ist nur so, dass er es nicht gerne sieht, wenn wir zusammen sind."

Era senkte für ein paar Sekunden ihren Blick und biss sich auf die Unterlippe. Als sie dann ihren Gefährten wieder ansah, glänzten ihre Augen feucht und eine Träne lief über das schmutzige Gesicht.

Senar musterte seine Freundin überrascht, da er sie noch nie weinen sah. Er kannte sie als hart zu sich selbst und dickhäutig. Ihr übler Ruf störte sie ebenso wenig wie die dauernden

Schikanen des Lehrers Targat, dem sie für Unterkunft und Essen den Haushalt bestellte.

Eine Welle der Zuneigung überflutete den Jungen, er umarmte das schmuddelige Mädchen und drückte es an sich, den strengen Geruch, der von ihr ausging, ignorierend.

"Was ist mit dir?" fragte er sanft.

"Du bist der einzige, mit dem ich gerne zusammen bin und der mich versteht. Ich könnte es nicht verwinden, wenn wir uns nicht mehr treffen könnten!"

Egal wie sein Vater dazu stand, Senar würde seine Gefährtin nie im Stich lassen, das schwor er sich in diesem Moment.

"Werd' nicht sentimental!" schnauzte er das Mädchen mit belegter Stimme an, knuffte sie heftig in die Rippen und lief davon.

"Wenn ich dich kriege, kannst du was erleben!" kreischte Era und rannte ihm nach, während sie glücklich über das ganze Gesicht strahlte, da sie seine Gedanken gelesen hatte.

 

*

 

Vier Monate später hatte sich der Informierte Keliath als erster der vier Erhabenen in Grat`Hala zur Zusammenkunft eingefunden. Er war der älteste von ihnen. Einige Jahre noch, dann würden seine Gaben nachlassen und ein anderer seine Stelle einnehmen.

Keliaht unterbrach seine Wanderung durch das Zimmer, das ihm der hiesige Beauftragte auf der Festung zur Verfügung gestellt hatte und blickte durch das geöffnete Fenster auf die Stadt hinab.

Die schwarzen Schindeln der Dächer und die massive, dicht gedrängte Bauweise mit den schmalen Straßen und Gassen verliehen der Hauptstadt des Landes Grenn etwas Düsteres.

Nachdenklich musterte der Mächtige die hohe Stadtmauer, die mit Bogenschützen und Schwertkämpfern besetzt war und fragte sich, ob sie tatsächlich Schutz gegen die Heimsuchung bieten würde, wie ihre Erbauer vor über tausend Jahren gehofft hatten.

Wieder ging Keliath ruhelos auf und ab und verfluchte seine Ungeduld, die es ihm schwer machte, die Zeit bis zum Eintreffen von Begron und Machal in Gelassenheit zu verbringen.

"Tretet ein, Beauftragter Raan!" murmelte der Erhabene beiläufig, gerade laut genug, dass der Mann vor der Türe, der eben klopfen wollte, es hören konnte.

Der Beauftragte für Grat`Hala wirkte befangen, als er den Raum betrat. Raan war groß, breitschultrig und hatte viele sportliche Wettkämpfe gewonnen, bevor er von den Informierten als hiesiger Stadthalter auserkoren worden war.

Respektvoll schaute der Athlet auf den kleinen, dickbauchigen Mann herab und fragte sich, warum die Natur einen so herausragenden Intellekt in einen solchen Körper steckte.

"Ist die Unterbringung zu Eurer Zufriedenheit, Erhabener?"

"Das ist nicht so wichtig, Beauftragter. Habt Ihr die nötigen Vorbereitungen für unsere Reise zum Schrein getroffen?"

"Natürlich, Erhabener, ich habe alles veranlasst!" versicherte der Angesprochene eilfertig und fuhr dann fort:

"Ist etwas Wahres an den Gerüchten, dass die Heimsuchung bevorstehen soll?"

Keliath musterte sein Gegenüber einige Sekunden. Er musste den Kopf tief in den Nacken legen, um dem hoch gewachsenen Mann ins Gesicht sehen zu können.

Raan merkte, wie ihm der Schweiß den Rücken herunter lief. Er fragte sich, ob er mit seiner Neugierde zu weit gegangen war.

Schließlich bequemte sich der Erhabene doch zu einer Antwort.

"Der Schrein, unser Immerwährender Beschützer, hat uns wissen lassen, dass es notwenig ist, dass wir ihn aufsuchen. Er meinte, an der Struktur werde manipuliert, was immer das auch heißen mag. Er teilte uns auch mit, dass SIE bald eintreffen werden."

"Wer trifft ein?"

"Wir haben keine Ahnung," bekannte Keliath. "Manchmal ist das, was uns der Immerwährende Beschützer mitteilt, schwer zu verstehen."

Raan war verblüfft, ein solches Geständnis aus dem Mund eines so mächtigen Mannes zu hören.

Für einige Sekunden wirkte der dickbauchige Mann geistesabwesend, dann sprach er weiter. "Die Informierten Begron und Machal sind soeben in Grat`Hala eingetroffen, sorgt dafür, dass sie sofort zu mir gebracht werden!"

"Wann ist mit dem Eintreffen des Erhabenen Mares zu rechnen?"

erkundigte sich Raan.

"Mares kommt nicht, es kränkt ihn, dass er vom Schrein nicht mehr akzeptiert wird."

Raan war über die Beiläufigkeit, mit der ihm Keliath diese ungeheuerliche Nachricht mitteilte, verblüfft.

"Der Erhabene Mares ist doch noch jung und seine Gaben sind stark", wandte der Beauftragte ein.

Keliath musterte ihn kühl und schien zu überlegen, ob er antworten sollte.

"Alle Informierten wurden vom Schrein unterrichtet, dass ihr Status erloschen ist. Wir erhalten nur noch einmal Zutritt, um eine letzte Anweisung zu empfangen", erklärte er schließlich und fuhr mit einem spöttischen Grinsen fort: "Mares fühlt sich von der Entscheidung des Immerwährenden Beschützers besonders gedemütigt und ist dem Ruf daher nicht gefolgt."

Nach diesen Worten ging Keliath zur Türe, öffnete diese und sah den Beauftragten auffordernd an.

"Kann ich Eurer Wissbegierde noch mit weiteren Auskünften dienen, oder habt Ihr nun Zeit, den Auftrag zu erfüllen, den ich Euch gab?"

Raan zog sich mit erschrockenem Gesichtsausdruck schleunigst zurück, um die Befehle des Mächtigen auszuführen.

 

*

 

"Keliath hat unsere Ankunft registriert", teilte Begron seinem Reisegefährten mit, der neben ihm auf einem Jahak ritt.

Machal, der zweitälteste der Informierten, nickte nur. Er wischte sich mit einem bunten Tuch den Schweiß von seinem aufgedunsenen Schädel und verfluchte die Hitze, die in Grat`Hala während dieser Jahreszeit herrschte.

Danach steckte er es mit seinen feisten Fingern wieder in eine Tasche seines prunkvollen Gewandes.

Machal wirkte wie ein gemütlicher alter Mann, doch der Schein trog: Wie kein anderer zuvor hatte er die Anordnungen der Informierten mit Gewalt durchgesetzt und war auch vor schauerlichen Anwendungen seiner Gaben nicht zurückgeschreckt.

"Erhabene, mein Name ist Kenal. Ich bin Privilegierter des Beauftragten Raan und wurde angewiesen, Euch auf die Festung zu geleiten", stellte sich ein Soldat vor, der die beiden Reisenden

kurz nach dem Stadttor erwartet hatte und die Uniform eines hochrangigen Offiziers des Reiches trug.

"Es ist sehr freundlich vom Beauftragten Raan, uns eine Eskorte zu schicken", lobte Begron mit Blick auf die bewaffnete Reiterstaffel, die sich hinter Kenal in Wartestellung befand.

"Ich bitte euch, Erhabene," wiegelte der Soldat ab, "wenn ihr uns folgen wollt?"

"Natürlich, reitet voran", brummte Machal und trieb seinen Jahak an. Das zottelige, rinderähnliche Tier schnaubte unwillig.

Als die Eskorte durch die Hauptstraße ritt, säumten Hunderte von Schaulustigen die Straßen, um die mächtigsten Männer des Landes Grenn zu sehen.

Der älteste der Informierten saß mit gesenktem Kopf und halbgeschlossenen Augen auf seinem Reittier. Es sah so aus, als sei er durch dessen gleichmäßig schaukelnden Gang eingenickt. Doch der Schein trog, Machal registrierte jede Kleinigkeit.

+Paß auf, Begron, da stimmt etwas nicht!+ teilte er seinem Begleiter in der lautlosen Sprache mit.

Dieser schaute nur kurz zu Machal hinüber und gab ihm so zu verstehen, dass er seine Gedanken aufgefangen hatte.

Im nächsten Moment rannte ein Dutzend vermummter Gestalten, die Begron als Angehörige der Messerwerfergilde des Zirkels erkannte, aus einer Seitenstraße.

Der Zirkel kämpfte schon seit Jahrhunderten gegen die Herrschaft der Informierten, hatte aber bisher noch keinen nennenswerten Erfolg verzeichnen können, außer den, dass es ihn trotz aller gegenteiliger Bemühungen der Erhabenen immer noch gab.

Das erste Messer durchschnitt pfeifend die Luft. Es wäre Machal durch die Kehle gefahren, hätte es seine Flugbahn beibehalten.

So aber wich etwa zwei Fuß vorher alle Energie aus dem kraftvollen Wurf und der geschliffene Stahl fiel klirrend zu Boden.

Im nächsten Moment ging ein wahrer Regen dieser tödlichen Werkzeuge auf die Informierten nieder, während die Eskorte von einem Pfeilhagel eingedeckt wurde.

"Da müssen mindestens zwanzig Bogenschützen des Zirkels auf dem Hausdach sein!" schrie Begron seinem Begleiter durch den Kampflärm zu und deutete auf ein Gebäude.

"Es wird keiner entkommen, verlass dich drauf!" presste Machal zwischen den Zähnen hervor und konzentrierte sich darauf, seinen Schutz aufrechtzuerhalten.

Eine kleine Gruppe der Eskorte, teilweise verwundet, bahnte sich einen Weg durch die Panik erfüllte Menge zu den Messerwerfern, die anscheinend einen unerschöpflichen Vorrat der handspannenlangen Mordinstrumente bei sich trugen.

Mit tödlicher Sicherheit fanden die Attentäter die ungeschützten Stellen am Körper der angreifenden Soldaten und jagten ihnen mit geschickten Würfen Messer in die Augen, in den Hals oder durch die unbehandschuhten Hände.

Doch durch den Gegenangriff der Eskorte bekamen die Informierten jene Entlastung, die sie benötigten, um zurückschlagen zu können.

"Komm, wir holen sie vom Dach!" forderte Machal Begron auf.

Im nächsten Moment spürten die Bogenschützen auf dem Dach des zweistöckigen Hauses den Druck des gemeinsamen Willens der beiden Mächtigen.

Im Umkreis von etwa einer halben Landmeile wälzten sich die `hala schreiend am Boden, da sie meinten, die Schädel würden ihnen bersten, als die Erhabenen mit machtvollen Gedankenbefehlen die Bogenschützen dazu zwangen, sich herabzustürzen.

Der Wille der Bewaffneten auf dem Dach war innerhalb einer Sekunde gebrochen, so dass sie losrannten und wie Hagelschlag auf die Straße fielen.

"So, jetzt seid  i h r  dran!" presste Machal zwischen den Zähnen hervor und konzentrierte mit aller Macht seine zerstörerischen Gaben auf die Messerwerfer.

Der Reihe nach zerplatzten mit lautem Knall die Köpfe der Vermummten, als wären sie unter Überdruck gestanden.

Der feiste Mann kannte keine Gnade, er ließ keinen der Attentäter am Leben.

Als alles vorbei war, herrschte ein unbeschreibliches Durcheinander, da die Schaulustigen in Panik geraten waren und schreiend vor Angst und Entsetzen durcheinander liefen.

Die reiterlosen Jahaks wurden zusehends nervöser. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sie durchgehen würden.

In dicken Blutlachen lagen die meisten Angehörigen der Eskorte tot auf dem Pflaster der Hauptstraße. Einige wenige, die ihr Leben behalten hatten, wälzten sich röchelnd und stöhnend am Boden.

"Das wird mir der Zirkel büßen!" stieß Machal grimmig zwischen den Zähnen hervor. "Diesmal sind sie zu weit gegangen. Ich werde dafür sorgen, dass diese Brut ein für alle mal ausgemerzt wird!"

"Du vergisst, dass wir unseren Status als Informierte nicht mehr lange haben werden", stellte Begron nüchtern fest.

"Das ist mir egal, meine Gaben wird mir der Schrein nicht nehmen können. Wenn's sein muss, führe ich einen Privatkrieg gegen diese Seuche, die sich Zirkel nennt", schwor Machal.

"Das kannst du später machen, jetzt binden wir erst einmal die Jahaks an, bevor sie alles niedertrampeln und kümmern uns um die Verletzten."

Als sie an den Straßenrand ritten, bemerkten sie einen hoch gewachsenen, hageren Mann, der mit verschränkten Armen scheinbar unbeteiligt an einer Hauswand lehnte.

Machal beruhigte mit ein paar Guten Gedanken sein Reittier, das vor dem Fremden Angst zu haben schien und trieb es auf ihn zu.

Er trug einen Turban, wie er in Grat`Hala üblich war und war auch sonst wie ein Bürger dieser Stadt gekleidet.

Dennoch spürte der Informierte die unfassbare Andersartigkeit, die den Mann wie eine Aura umgab.

"Ihr scheint Euch nicht zu fürchten, wer seid Ihr?" fragte ihn Begron, der jetzt mit seinem Jahak neben Machal war.

Der Hagere antwortete nicht. Er musterte die beiden Reiter nur kalt.

+Ich kann seine Gedanken nicht erfassen+, teilte Machal dem anderen Mächtigen in der lautlosen Sprache mit.

+Ich auch nicht,+ antwortete Begron ihm auf die selbe Weise, +mit dem stimmt etwas nicht!+

Der älteste der Informierten nickte nur und versuchte nun, dem Fremden, der immer noch schwieg, seinen Willen aufzuzwingen.

Für einen Moment gelang es dem Erhabenen, einen Gedanken des Mannes zu erfassen, der sich offenbar auf ihn und Begron bezog.

Machal konnte dabei etwas spüren, was ihn zutiefst traf: Absolute Geringschätzigkeit.

Es war nicht so, dass dieser Kerl ihnen Hass oder Verachtung entgegenbrachte. Er schaute auf sie herab, wie auf ein niederes Insekt.

Nun griff der Fremde mit der linken Hand in eine Tasche seiner weißen Leinenjacke und holte einen seltsamen Gegenstand hervor.

Die beiden Mächtigen konnten die Bedrohung, die von dem Mann und jenem Ding in seiner Hand ausging, fast körperlich spüren.

Mit einer beiläufigen Geste streckte der Hagere den Arm aus und zeigte mit dem Gegenstand auf Machal.

Zum ersten Mal in seinem Leben hatte der Erhabene Angst.  

Er spürte, wie seine Hände zu zittern begannen und schaffte es nur mit Mühe und Not, einen Schutz um sich aufzubauen.

Im nächsten Moment gab das Ding in der Hand des Fremden ein kurzes, trockenes Geräusch von sich. Der Informierte spürte einen fürchterlichen Hieb, der ihn an der Brust traf und aus dem Sattel hob.

Noch während er vom Jahak fiel, hörte er das Geräusch ein zweites Mal und sah noch, wie Begron von seinem Jahak stürzte.

Ohne Hast drehte sich der Hagere um und ging fort.

Machal versuchte aufzustehen, doch es gelang ihm nicht. Er registrierte, dass aus einer etwa fingerdicken Wunde in seiner Brust ein stetiger Blutstrom drang.

Der Informierte versuchte sich zu entspannen und die Heilende Gabe einzusetzen. Durch sie spürte er, dass ein Teil eines Fremdkörpers in seiner Brust steckte. Der andere Teil war offenbar durch seinen Rücken ausgetreten.

So sehr sich der Erhabene auch bemühte, die Wunde wollten sich nicht schließen und das Blut floss weiterhin aus seinem Körper.

Mühsam kroch er zu Begron hin, der ebenfalls auf dem Boden lag.

"Ich kann mich nicht heilen, die Gabe versagt!"

Begron wollte ihm antworten, doch es wurde nur ein Gurgeln daraus, als sich ein Schwall Blut aus seinem Mund ergoss.

"Ich werde versuchen, Keliath zu Hilfe zu holen", keuchte Machal mit schmerzverzerrtem Gesicht und konzentrierte sich. Dabei stellte er fest, dass der Fremdkörper in seiner Brust seine Lebensenergie aufzusaugen schien wie ein Schwamm.

Als Keliath wenige Minuten später mit einer schwer bewaffneten Reiterschar eintraf, war Machal bereits tot.

"Was ist geschehen, wer hat so etwas fertig gebracht?" stieß Keliath hervor, als er sich über den Schwerverletzten beugte und verzweifelt versuchte, mit der Heilenden Kraft dessen Tod zu verhindern.

Begron, der trotz der großen Hitze am ganzen Körper zitterte, schien seine Umgebung kaum mehr wahrzunehmen.

"Die Heimsuchung steht bevor!" röchelte er. "Wir können sie nicht aufhalten, alle Gaben versagen."

Dann zog er Keliath, der sich über ihn beugte, mit letzter Kraft zu sich heran. Dieser brachte sein Ohr ganz nahe an den Mund des Sterbenden.

"Er war so furchtbar überlegen..." flüsterte Begron mit Tränen in den Augen.

Keliath spürte, dass der Fremdkörper in der Brust des zu Tode Getroffenen die Heilende Kraft blockierte. Deshalb entschloss er sich, dieses Ding zu entfernen, doch bevor er sich auf einen entsprechenden Wunsch konzentrierte konnte, war Begron bereits tot.

 

*

 

Eines der größten Mysterien dieser Welt sind die Alten Schriften der Großen Bibliothek in Grat`Hala. Ganze Passagen davon sind für uns Informierte nicht lesbar, obwohl alle Buchstaben und Worte mühelos zu entziffern sind.

Es ist, als hätte man die Wörter vorher schon wieder vergessen, wenn man das nächste liest, so dass man den Sinn des Satzes nie begreift...

Immerhin haben wir Informierte es noch besser als das gemeine Volk, dem die Bibliothek ebenfalls zugänglich ist. Ihm bleibt der Inhalt völlig verborgen, während sich uns nur einzelne Passagen verschließen.

Aber da sind noch jene Frauen, die sich Hohe Gesegnete nennen.

Sie sollen angeblich alles lesen können. Warum nur ist das so?

 

(Auszug aus den persönlichen Aufzeichnungen des Informierten Mares). 

 

*

 

"Ein Reiser namens Miller ersucht um ein Gespräch mit Euch, Erhabener."

Der Angesprochene schaute ungnädig von dem Buch auf, in das er sich schon seit mehrere Stunden vertieft hatte.

"Ich habe doch gesagt, dass ich nicht gestört werden will, oder drücke ich mich neuerdings nicht mehr klar aus, Vram?"

Hilflos sah der Erste Diener zu, wie sich der Informierte wieder dem Buch zuwandte.

"Ihr solltet Euch diesen Miller ansehen, er ist irgendwie..., nun sagen wir, außergewöhnlich!" wagte Vram einen neuen Anlauf.

Langsam erhob sich Mares von seinem Stuhl.

Er war der jüngste der Erhabenen und jener, der sich rühmen konnte, mit den Gaben am meisten gesegnet zu sein.

Mares' Äußeres entsprach dem eines Durchnittsbürgers seiner Residenzstadt Gren`Volat und sein Gesicht war so nichts sagend, dass man es sofort wieder vergaß.

Der Informierte machte keinen Pomp um seine Person und sein einziger Ehrgeiz bestand darin, seine Kenntnisse durch das Studium der Alten Schriften zu vervollkommnen.

"Was ist das für ein Name, M i l l e r ?"

"Ich habe einen solchen Namen auch noch nie gehört, Erhabener.

Er trägt die Kleidung eines Reisers, aber ich glaube ihm nicht, dass er einer ist."

"Lass ihn noch ein bisschen warten und führe ihn dann herein", entschied Mares schließlich, nun doch ein wenig neugierig geworden.

"Wie ihr meint, Erhabener!" säuselte der Erste Diener und verneigte sich noch etwas tiefer als sonst. Dann verließ er rückwärts gehend und sich mehrmals verbeugend erleichtert die Bibliothek.

Mares nahm wieder in seinem schweren Sessel Platz. Er war viel herumgereist und kannte alle wichtigen Städte des Kontinents.

Aus den Alten Schriften, die noch aus der Unerklärlichen Zeit stammten, wusste er, dass Senholzer, so wurde die Welt in diesen Aufzeichnungen genannt, nur über einen einzigen Kontinent verfügte, der etwa tausend Landmeilen vom Südpol entfernt war.

Der Rest der Welt bestand aus Wasser und vier Inseln. Doch nur die nächstgelegene hatten die `hala bisher erreicht, nämlich Setha, den Sitz des Schreines.

Vielen Seefahrern hatte die Suche nach den anderen drei Inseln, die es noch geben musste, schon das Leben gekostet.

Ihre Lage war den Informierten genau bekannt, da in den Schriften Karten von Senholzer waren.

Aus unbekannten Gründen hatte jedoch kein Schiff, das sich auf die Suche gemacht hatte, bisher sein Ziel erreicht. Manche waren auch nie mehr zurückgekehrt.

Mares glaubte die Ursache dafür zu kennen. Die drei Inseln lagen dicht beisammen in der Nähe des Nordpols. Der Informierte hatte in den Aufzeichnungen Hinweise gefunden, dass es in dieser Gegend starke Meeresströmungen, aber so gut wie nie Wind gab.

Offenbar wurden die Schiffe durch die Strömung auf einen bestimmten Kurs gezwungen und hatten mangels Wind nicht die Möglichkeit, diesen zu ändern.

"Erhabener, der Reiser Miller bittet darum, nun vorgelassen zu werden!"

Mares schreckte aus seinen Gedanken auf und verfluchte das uralte Privileg der Ersten Diener, nicht anklopfen zu müssen, wenn sie den Raum betraten.

"Also gut, führe ihn herein, damit ich es hinter mich bringe", meinte der Informierte ungnädig und lehnte sich seinem Sessel zurück.

Vram trat zur Seite und gab den Weg frei, offenbar hatte Miller unmittelbar hinter ihm gestanden. Mit Interesse musterte Mares den Mann.

"Ich danke Euch sehr, dass Ihr mich empfangt, Erhabener!"

Der Informierte horchte auf. Täuschte er sich, oder hatte er einen spöttischen Unterton aus den Worten seines Besuchers herausgehört?

"Nehmt Platz, Reiser." Mares wies auf einem Stuhl vor seinem Schreibtisch.

Der Fremde setzte sich und musterte sein Gegenüber ungeniert, ohne ein Wort zu sagen.

Obgleich dies eine Unverfrorenheit war, beschloss der Erhabene, nicht darauf zu reagieren und betrachtete seinerseits den Reiser.

Dieser war überdurchschnittlich groß, sehr schlank und hatte eine dunkle Hautfarbe, was den Schluss zuließ, dass er aus der Gegend von Fa`Senn kam, einer Hafenstadt im äußersten Norden von Grenn, wo es sehr heiß war.

Sein kahler Schädel deutete darauf hin, dass er an Hadnan litt, einer auszehrenden Krankheit, bei der die Kopfbehaarung gänzlich ausfiel.

Während sich Mares noch wunderte, wie gesund der Reiser trotz dieser schweren Erkrankung aussah, lehnte sich dieser bequem in seinem Stuhl zurück, legte beide Füße auf den Schreibtisch des Informierten und meinte spöttisch:

"Ihr denkt, ich habe Hadnan, nicht wahr? Nun, da kann ich Euch beruhigen, bei meinem Volk ist Haarausfall etwas völlig normales."

In diesem Moment wurde dem Erhabenen klar, dass Miller niemals das war, was er vorgab zu sein.

Keiner im Lande Grenn hätte es gewagt, sich gegenüber einem Informierten so respektlos zu benehmen. Zudem strahlte dieser Mann eine Fremdartigkeit aus, wie sie Mares noch niemals in seinem Leben begegnet war.

War dieses Individuum überhaupt ein `hala? In den Alten Schriften war mehrmals von der Existenz anderer Welten und fremder Rassen die Rede. Stammte Miller etwa nicht von Senholzer, sondern...?

All das schoß dem Mächtigen jetzt durch den Kopf, doch es gehörte zu Mares' starken Seiten, nie zu zeigen, was in ihm vorging. Er ließ sich seine Unsicherheit nicht anmerken und beschloß, das Verhalten des Fremden zu ignorieren, bis sich herausstellte, was dieser damit bezwecken wollte.

Ohne auf die Ausführungen seines Besuchers einzugehen, entgegnete der Mächtige scheinbar freundlich:

"Wie ich sehe, fühlt Ihr Euch wie zuhause, Reiser Miller. Vielleicht hättet Ihr trotzdem die Güte, Eure Füße von meinem Schreibtisch zu nehmen und mir nun endlich den Grund zu nennen, weshalb Ihr hier seid!"

Das selbstgefällige Grinsen auf Miller's Gesicht verschwand und machte gespielter Verwunderung Platz.

"Ich hätte eigentlich damit gerechnet, dass Ihr mich zur Strafe für mein unverschämten Auftreten in ein Insekt verwandelt, Erlauchter", spottete Miller und nahm seine Füße wieder vom Tisch.

"Was Euer Gehirn betrifft, müsste ich mich wohl dabei nicht allzu sehr anstrengen", konterte Mares und verzichtete darauf, sein Gegenüber darüber zu belehren, dass ein Informierter mit "Erhabener" oder "Mächtiger" anzusprechen sei.

"Nun, mein Benehmen hatte eigentlich den Grund, festzustellen, ob Ihr dazu überhaupt in der Lage wärt."

"Sagt was Ihr hier wollt und dann verschwindet, bevor ich mich mit dem Gedanken befasse, Euch so zu behandeln, wie es andere an meiner Stelle tun würden!"

"Also gut," sagte Miller und beugte sich vor, "ich will Auskünfte über den Schrein."                 

Mares blieb weiterhin beherrscht.

"Nichts leichter als das," entgegnete er süffisant. "Ihr braucht nur zu warten, bis Ihr den Status eines Informierten erhaltet, dann werdet Ihr alles über den Schrein erfahren."

"Soweit ich weiß, sind vor ein paar Stunden einige Plätze frei geworden", führte der Reiser genüsslich aus. "Machal und Begron sind nicht mehr am Leben, was aber kein großer Verlust für Grenn ist."

Jetzt war es dem Fremden gelungen, Mares aus der Fassung zu bringen.

Mit hochrotem Kopf sprang er von seinem Sessel auf und schlug mit der Faust krachend auf den Tisch.

"Ich bin wahrlich keiner, der wie andere Informierte als Halbgott behandelt werden will, aber ich habe mir von Euch jetzt genug Unverschämtheiten angehört!"

Außer sich vor Wut gab Mares einem Wunsch nach, der sein Gegenüber auf der Stelle töten musste, aber es passierte überhaupt nichts.

Als der Mächtige seine Gaben einsetzte, weiteten sich für den Bruchteil einer Sekunde seine Pupillen, bis die Iris und das Weiße nicht mehr zu erkennen waren.

Der Fremde namens Miller bemerkte es und zog den richtigen Schluss daraus.

"Siehst du, mein Freund, das meinte ich mit dem Insekt", erklärte der Kahlköpfige selbstgefällig, während er sich von seinem Stuhl erhob.

"Ich lasse dich jetzt allein, damit du in Ruhe über alles nachdenken kannst", fügte er in sanften Tonfall hinzu. "Aber morgen komme ich wieder. Dann wirst du mir einige Fragen über den Schrein beantworten. Sollte ich jedoch nichts von dir erfahren," der Reiser beugte sich jetzt drohend vor, "wirst du deinen leider viel zu früh verstorbenen Freunden Machal und Begron bald Gesellschaft leisten."

Der Erhabene saß wie versteinert hinter seinem Schreibtisch. Er zweifelte keinen Augenblick daran, dass der Fremde in der Lage war, seine Drohung in die Tat umzusetzen. Das zeigte schon die beleidigende Anredeform, die er nun benutzte.

"Im übrigen", fügte der Reiser nach einem Blick auf ein seltsames Ding an seinem linken Handgelenk hinzu, "würde ich meine Hand nicht ins Feuer legen, dass Keliath noch lange unter unter den Lebenden weilt...

Also dann bis morgen!" bekräftigte Miller noch mit einem freundlichen Lächeln und verließ das Zimmer.

Er ließ einen völlig verwirrten Mares zurück. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte der Mächtige die Erfahrung machen müssen, dass sich etwas völlig seiner Kontrolle entzog. Er hatte keinen Einfluss auf die Geschehnisse nehmen können. Das erfüllte ihn mit ohnmächtiger Wut, aber auch mit Furcht.

Als der Erste Diener hereinkam, natürlich ohne anzuklopfen, gelang es dem Mächtigen nicht, das Zittern seiner Hände zu verbergen und der Stimme einen festen Klang zu verleihen, als er Vram anwies, alles für eine sofortige Abreise nach Grat`Hala vorzubereiten.

 

*

 

Seit dem Tod von Machal und Begron waren zwei Tage vergangen.

Keliath hatte sich ein ziemlich genaues Bild von den Vorgängen, die zum Tod der Informierten geführt hatten, verschaffen können, da Begron ihm seine Gedanken geöffnet hatte, bevor er starb.

"Es ist alles fertig für Eure Abreise, Erhabener", drang die Stimme von Raan in die Gedanken des Mannes, der nachdenklich aus dem Fenster sah.

"Ist schon eine Antwort von Mares eingetroffen?"

"Nein, Erhabener, das ist auch nicht möglich, da der Bote ihn frühestens morgen erreicht!"

"Ihr habt recht, daran habe ich nicht mehr gedacht. Ich werde jetzt sofort den Schrein aufsuchen, sorgt dafür, dass Mares auch wirklich nachkommt.

Wenn nötig, schickt nochmals einen Boten. Er muss begreifen, wie wichtig es ist!"

"Natürlich, Erhabener, ich werde alles tun, was in meiner Macht steht!" versicherte der Beauftragte.

"Gut, ich habe keine Zeit mehr zu verlieren, helft mir in das Kettenhemd."

Raan ließ sich seine Verwunderung nicht anmerken, als er dem Mann, der mit seinem Geist einen Schutz um sich aufbauen konnte, der tausendmal wirksamer war als ein Kettenhemd, dabei behilflich war, das starre und schwere Eisengeflecht anzulegen.

"So, jetzt können wir gehen", erklärte Keliath zufrieden und begab sich in den Hof der Festung, wo sein Jahak gesattelt bereit stand.

Zusammen mit einer bewaffneten Eskorte von 50 Bogenschützen und Schwertkämpfern verließ der Mächtige Grat`Hala, um sich nach Setha zum Schrein zu begeben.

 

*

 

Fünf Tage später hatte die Gruppe ohne Zwischenfälle die Hafenstadt Fa`Senn erreicht.

Der Kapitän der Sadre begrüßte den Informierten ehrerbietig, als er an Bord kam.

"Wir können morgen früh auslaufen, Erhabener. Bis dahin wird die Sadre beladen und die Mannschaft vollständig sein."

"Ich weiß, dass Euch meine Nachricht erst gestern erreichte, Kapitän, trotzdem muss ich Euch bitten, Euer möglichstes zu tun, damit wir noch in dieser Nacht auslaufen können."

Der Seefahrer verzog das Gesicht als hätte er in eine sauere Frucht gebissen. 

"Es ist manchmal wahrlich kein Vergnügen, Kapitän auf Eurem Schiff zu sein, Erhabener!"

Keliath schätzte den Seemann zu sehr, um ihn wegen dieser Bemerkung zu tadeln. Es gab keinen fähigeren Navigator und Schiffskommandanten als ihn.

"Es ist wirklich wichtig, Tennar!"

Die Tatsache, dass ihn der Informierte mit dem Namen anredete, zeigte dem alten Seemann, dass etwas ungewöhnliches passiert sein musste.

"Ich habe verstanden, Erhabener!" bestätigte er, verneigte sich kurz und zog sich zurück.

Der Mächtige kannte den Seefahrer gut genug, um sicher zu sein, dass die Sadre noch heute Nacht auslaufen würde.

Fasziniert betrachtete Keliath einige Zeit später von seiner Kabine aus den Sonnenuntergang am Meer und dachte daran, wie gut es die Bewohner von Fa`Senn hatten, da sie dieses Naturschauspiel jeden Tag sehen konnten.

In Gedanken versunken gab er sich dem Anblick des glutroten Balles, der langsam im Ozean zu versinken schien, hin.

Als die Türe geöffnet wurde und jemand eintrat ohne anzuklopfen, zuckte der Erhabene zusammen.

Obwohl es Keliath's Gewohnheit war, mit den Fühlern seiner Gedanken immer seine unmittelbare Umgebung zu überwachen, hatte er nicht registriert, dass sich jemand seiner Kabine genähert hatte. Das beunruhigte ihn.

"Wer seid Ihr und was habt Ihr hier zu suchen?" fuhr er die zierliche, rothaarige Frau an, die eben die Türe schloss.

"Nun, wer bin ich wohl?" fragte die Besucherin mit aufreizendem Lächeln. Der Informierte war erleichtert, als er bemerkte, dass sie die Gewänder einer Fa`Sennischen Edelmetze trug.

Offenbar hatte sie gehört, dass er sich an Bord befand und witterte ein lukratives Geschäft, da es auch unter den Mächtigen üblich war, die Dienste dieser Gilde in Anspruch zu nehmen.

Seine Erleichterung währte jedoch nur kurz, da er spürte, dass die Frau von einer Aura unsagbarer Fremdartigkeit umgeben war.

Keliath wurde klar, dass das Weib die Kleidung einer teuren Hure nur gewählt hatte, um ohne Schwierigkeiten an den Posten vorbei auf das Schiff und in seine Kabine zu kommen.

Er konnte sich das verständnisvolle Grinsen der Wachen gut vorstellen, als die Rothaarige in Richtung seiner Unterkunft entschwunden war.

"Nun, jedenfalls seid Ihr nicht das, was Ihr vorgebt", stellte der Informierte zögernd fest, während sich seine Gedanken überschlugen.

"Steckt nicht in jeder Frau etwas von einer Metze?" philosophierte seine Besucherin mit kokettem Lächeln.

Keliath ließ sich davon nicht täuschen. Er konnte die Gefährlichkeit dieses Weibes spüren, als stände er einem Raubtier gegenüber.

"Ich habe Euch gefragt, was Ihr hier wollt!"

"Also gut, mein Süßer, du sollst es wissen. Ich begleite dich auf deiner Reise. Du wirst mich zum Schrein mitnehmen."

Wie sie das sagte, war es mehr eine Feststellung als eine Forderung. Sie schien die Möglichkeit, ihren Willen nicht durchsetzen zu können, gar nicht in Betracht zu ziehen.

"Ihr seid nicht nur völlig übergeschnappt, sondern auch unverschämt im Ton. Seid froh, dass ich Euch dafür nicht zur Rechenschaft ziehe. Und nun verschwindet!"

Bei diesen Worten öffnete Keliath bebend vor Wut die Türe und schaute das Weib auffordernd an.

Nachsichtig lächelnd holte die Fremde aus einem Lederbeutel, den sie bei sich trug, ein kleines, klobiges Ding heraus. Damit deutete sie auf einen Punkt neben Keliath.

Im selben Moment war ein kurzes, trockenes Geräusch zu hören und die Türe hatte in der Mitte ein Loch, durch das man bequem zwei Fingern stecken konnte.

Angesichts der Tatsache, dass die Türe aus Blockholz und drei Zoll dick war, konnte sich der Informierte gut vorstellen, was passieren würde, wenn diese Frau das Ding in ihrer Hand bei ihm anwendete.

Leichenblaß setze er sich in den Stuhl an seinem Schreibtisch.

"Also gut, wir wollen in aller Ruhe darüber reden", lenkte er ein.

"Jetzt wird er vernünftig, der Erhabene", spottete das Weib und lümmelte sich auf ein Sofa in der Ecke.

"Also, was wollt Ihr von mir?" fragte der Informierte.

"Ich sagte es schon, wir werden gemeinsam dem Immerwährenden Beschützer einen Besuch abstatten."

Keliath's Verstand arbeitete fieberhaft. Er war sich im klaren darüber, dass er mit allen Mitteln verhindern musste, dass dieses Weib den geheiligten Ort betrat. Aus einem unbestimmten Gefühl heraus hatte der Mächtige Zweifel daran, dass der Schrein stark genug war, sie in ihre Schranken zu weisen.

Noch vor kurzer Zeit wären ihm solche Gedanken nie in den Sinn gekommen, denn der Immerwährende Beschützer galt als übermächtig und fast allwissend.

"Darf ich mich erkundigen, was Ihr vom Schrein wollt?"

Die Frau bedachte ihn mit einem nachsichtigen Blick, als wäre er ein kleiner Junge, der gerade eine sehr dumme Frage gestellt hatte.

"Das wirst du sehen, wenn wir dort sind", entgegnete sie arrogant.

Dann holte die Fremde eine kleine Glasphiole aus ihrem Lederbeutel hervor und öffnete diese, indem sie den oberen Teil abbrach. Den Inhalt schüttete sie in einen Becher, der am Tisch stand und mit Fomt, einem alkoholischen Getränk, gefüllt war.

"Trink!" wies das Weib Keliath an und deutete mit dem klobigen Ding in ihrer Hand auf den Becher.

"Was ist das?" erkundigte sich der Informierte, während er spürte, wie ihm die Angst die Kehle zuschnürte.

"Es bringt dich nicht um, ich habe nur nicht Lust, die ganze Zeit auf dich aufzupassen."

"Ein Schlafmittel also", stellte er fest.

"Ja, so etwas ähnliches, also jetzt runter damit!" befahl sie ungeduldig.

Keliath wusste, dass er jetzt handeln musste, weil er später keine Möglichkeit mehr dazu haben würde.

Mit aller Macht konzentrierte er sich und versuchte, mit einem Wunsch den Herzschlag der Frau anzuhalten, doch es gelang ihm nicht. Auch der Versuch, ihren Willen zu beeinflussen, schlug fehl. Das schlimmste daran war, dass sie seine Bemühungen nicht einmal zu registrieren schien.

"Meine Geduld ist bald erschöpft!" drohte sie.

"Wenn mir etwas zustößt, kommt Ihr nicht lebend vom Schiff, also seid vernünftig und lasst uns in Ruhe darüber reden!" versuchte der Informierte Zeit zu gewinnen.

Als Antwort darauf ertönte von dem klobigen Ding in ihrer Hand ein Klicken. Obwohl Keliath nicht wusste, was es zu bedeuten hatte, spürte er, dass sein Leben nun am seidenen Faden hing.

"Trink!"

Die Rothaarige presste das Wort voll unterdrückter Wut zwischen den Zähnen hervor. Keliath griff mit zitternder Hand zum Becher.

Dabei bemerkte er den Brieföffner bei den Schreibutensilien auf seinem Tisch.

Kalter Schweiß brach ihm aus, als er daran dachte, was passieren würde, wenn sein Versuch fehlschlug.

Er schloss die Augen, ließ einen Schluck aus dem Becher in seinen Mund rinnen und lenkte dann alle Kraft seines Wunsches in den Brieföffner.

Dieser schnellte vom Tisch weg, durchschnitt wie ein Wurfmesser die Luft, fuhr der Fremden von vorne in den Brustkorb und trat am Rücken wieder aus. Dann blieb das Ding mit einem knallenden Geräusch in der Türe stecken.

Im selben Moment spie der Informierte den Schluck, den er getrunken hatte, prustend auf den Boden.

Nun ging ein wahrer Hagel von Gegenständen auf die Rothaarige nieder.

Alles was in der Kabine nicht niet und nagelfest war, schleuderte Keliath mit der Kraft seines Geistes auf das Weib, um zu verhindern, dass sie dieses Ding doch noch gegen ihn einsetzte.

Ein besonders dickes Buch mit einem eisenbeschlagenen Einband lenkte der Informierte auf die Hand, in der die Fremde jenen Gegenstand hielt. Durch die Wucht des Aufpralls splitterten ihre Mittelhandknochen.

Zitternd stützte sich der Informierte am Schreibtisch ab, als er seine Kräfte verbraucht hatte.

Das Weib lag am Boden neben dem Sofa. Mit jedem Atemzug quoll ein Schwall dunkelroten Blutes aus ihrem Mund. Dennoch war sie bei Bewusstsein und sah ihn an.

"Ich sollte dich sofort töten, du Ausgeburt der Finsternis", stieß Keliath hervor und sah das Weib dabei hasserfüllt an.

"Aber du stirbst sowieso", fügte er dann in zufriedenem Tonfall hinzu und öffnete das Fenster der Kabine.

Mit einer letzten Anstrengung seines Geistes schleuderte er die tödliche Waffe der Fremden ins Wasser und ging nach oben, um Tennar zu informieren.

Dieser begleitete den Erhabenen sofort zu dessen Kabine.

Als Keliath die Türe öffnete, registrierte er zu seiner maßlosen Verblüffung, dass seine Besucherin scheinbar unverletzt vor ihm stand. Wäre ihre Kleidung nicht blutverschmiert gewesen, hätte der Mächtige an seinem Verstand gezweifelt.

"Wo ich herkomme sagt man, dass man den Tag nicht vor dem Abend loben soll", erklärte sie mit gefährlicher Ruhe und ging langsam auf die beiden zu.

Unvermittelt führte sie mit ihrem rechten Fuß einen mörderischen Schlag gegen die Schläfe des Informierten, der ihn fällte wie einen Baum.

Als Keliath wieder zu sich kam, lag er in einem Bett mit duftenden weißen Laken. Die Sonne schien ihm durch ein großes Fenster mitten ins Gesicht.

Widerwillig wandte er den Kopf zur Seite, um nicht länger geblendet zu werden und bemerkte dadurch, dass eine Heilerin mittleren Alters neben seinem Lager saß und ihn musterte.

Die Frau war von einer beeindruckenden Hässlichkeit. Der braune Teint der Bewohner von Fa`Senn war bei ihr besonders ausgeprägt, außerdem wies sie eine beträchtliche Leibesfülle auf und hatte ein lückenhaftes Gebiss.

"Ich sehe, es geht wieder aufwärts mit dir, Erhabener", sagte sie mit einer sonoren Stimme, die im krassen Gegensatz zu ihrem Aussehen stand.

"Wer seid Ihr?" fragte Keliath die Fettel.

"Ich bin Armaran, die Heilerin von Fa`Senn", stellte sie sich vor.

Keliath lauschte dem dunklen Timbre ihrer Stimme nach und fühlte sich plötzlich viel besser.

"Wo bin ich hier?" erkundigte er sich.

"Du bist in meinem Haus. Ich habe dich hierher bringen lassen, damit du die Pflege bekommst, die notwendig ist."

"Wie lange bin ich schon hier?"

"Fast drei Tage, Erhabener, es war nicht leicht, dein Leben zu retten. Bei Tennar haben meine Gaben versagt. Die Bestie hatte ihm mit einem Schlag den Kehlkopf zertrümmert und auch die Wachen an Bord der Sadre waren übel zugerichtet."

"Ist sie entkommen?"

"Sie ist spurlos verschwunden, Mächtiger, es tut mir leid, dass ich dir keine erfreulichere Auskunft geben kann."

Erst jetzt fiel dem Keliath auf, dass ihn die Heilerin duzte, was normalerweise nur einem anderen Informierten zustand.

Seltsamerweise empfand er keinen Zorn darüber, obwohl er zu jenen gehörte, die auf die Etikette großen Wert legten.

Im Gegenteil, ein Gefühl der Geborgenheit und Vertrautheit stellte sich ein und er wartete darauf, ihre Stimme wieder zu hören. Als sie nichts sagte, machte er den Anfang.

"Wie lange werde ich noch untätig hier liegen müssen?"

"Ich habe alle organischen Defekte beseitigt, aber in dir sitzt noch ein tiefer Schock und nackte Angst erfüllt dein Denken.

Es wird wohl noch einige Zeit dauern, bis du wieder zu dir gefunden hast."

Armaran hatte dem Informierten Wahrheiten gesagt, die er sich normalerweise nicht ohne wütende Reaktion angehört hätte, da er ein sehr ausgeprägtes Selbstwertgefühl besaß.

Bei ihr jedoch machte es ihm seltsamerweise nichts aus.

Er spürte, wie ein Damm in ihm brach. Er erzählte der Heilerin alles von dem Moment an, als die Fremde seine Kabine betreten hatte.

Mehrmals brach er in Tränen aus, als die Erinnerung wieder lebendig wurde, aber danach fühlte er sich erleichtert und nicht mehr so verängstigt.

"Es ist gut, Erhabener, ich glaube, du kannst morgen früh wieder deiner Wege gehen. Jetzt schlaf noch ein bisschen!"

Keliath fühlte, wie er müde wurde. Während ihm langsam die Augen zufielen, betrachtete er die Heilerin, fühlte ihre Stimme in seinem Kopf nachklingen und fand Armaran mit einem Mal sogar ein wenig attraktiv.

 

*

 

Mit steinerner Miene hörte sich Mares den Bericht von Keliath's Boten an. Dieser war zunächst nach Gren`Volat, der Residenzstadt des Informierten geritten und hatte dort erfahren, dass Mares unterwegs nach Grat`Hala war.

Ohne sein Jahak zu schonen, war ihm der Bote sofort nachgeritten und hatte ihn in der Mitte der Strecke zwischen den beiden Städten eingeholt.

"Ihr müsst sofort nach Fa`Senn reiten und mit dem Erhabenen Keliath den Schrein aufsuchen!" schloss er seinen Bericht.

Erst jetzt merkte der Bote, dass er es gewagt hatte, einem Informierten Anweisungen zu erteilen.

Der Bote senkte den Kopf und stammelte: "Vergebt mir meine Anmaßung, Erhabener." Mit einer knappen Geste gab Mares zu verstehen, dass er dies nicht übel genommen hatte.

"Wir schlagen sofort den Weg nach Fa`Senn ein", wies er den Führer seiner Eskorte an.

"Erhabener, wir haben nicht genug Proviant für diese Reise mitgenommen, wir sollten zuerst nach Gren`Volat zurückkehren."

"Dazu ist keine Zeit mehr, tut was ich Euch gesagt habe, Eskortenführer!"

"Natürlich Erhabener!" stimmte der Eskortenführer, erschrocken über den barschen Tonfall, den er von Mares nicht gewohnt war, zu.

Der Informierte wandte sich wieder an den Boten.

"Nehmt Euch einen ausgeruhten Jahak und reitet voraus nach

Fa`Senn. Bestellt Keliath, dass ich unterwegs bin und sagt ihm, ich werde versuchen, bis morgen Abend dort zu sein."

"Wie wollt Ihr das schaffen, Erhabener? Ich muss mein Jahak zu schanden reiten, wenn ich morgen vor Einbruch der Dunkelheit in der Hafenstadt sein will. Ihr seid mit der Eskorte und den voll bepackten Lastenjahaks nicht einmal halb so schnell."

"Tut, was ich Euch aufgetragen habe, Keliath wird wissen, wie es gemeint ist und seine Vorbereitungen treffen."

Obwohl der Bote nicht wusste, was Mares meinte, senkte er in der Geste der Zustimmung den Kopf und machte sich daran, einen ausgeruhten Jahak satteln.

"Hört zu, Eskortenführer, wir müssen so schnell wie möglich etwa 60 Landmeilen vor Fa`Senn gelangen. Den Rest der Strecke lege ich dann alleine zurück", bestimmte der Mächtige.

Der Soldat wagte nicht, zu widersprechen und gab die Anweisung weiter.

Am Spätnachmittag des darauf folgenden Tages hatten sie ihr Ziel erreicht. Sie waren die ganze Nacht durchgeritten, ohne sich eine Rast zu gönnen. Die Männer waren müde und erschöpft, doch keiner wagte zu murren.

Allein wäre Mares mindestens doppelt so schnell vorangekommen, zumal die Jahaks in der Herde nicht zu einer schnelleren Gangart als zum Schritt zu bewegen waren.

Es war eine Eigenart dieser Tiere, dass man sie nur dann zu einem hohen Tempo antreiben konnte, wenn sie von der Herde getrennt wurden.

"Ab hier werde ich alleine weiter reiten, Eskortenführer, Ihr könnt nach Gren`Volat zurückkehren."

Der Soldat zögerte. Man merkte ihm an, wie gerne er dem Informierten ausgeredet hätte, alleine weiter zureiten.

Ein Blick in dessen Gesicht riet ihm aber davon ab, diesbezüglich einen Versuch zu unternehmen.

"Ist noch etwas?" erkundigte sich Mares kühl.

"Nein, Erhabener, wir werden sofort umkehren, wie Ihr es für richtig haltet."

Mit einer kurzen Geste bekundete der Soldat seine Ergebenheit,

dann machte er sich mit seinen Männern auf den Rückweg.

Mares wartete, bis sie außer Sichtweite war, band dann seinen Jahak los und gab ihm einen Klaps auf das Hinterteil.

Aufgrund der großen Verbundenheit dieser Tiergattung mit der Herde rannte der Jahak sofort im Höchsttempo der Eskorte nach.

Alle Versuche, derartiges durch Zucht und andere Maßnahmen zu unterbinden, waren bisher fehlgeschlagen. Die meisten Jahaks waren ohnehin nicht einmal mit Schlägen dazu zu bewegen, die Herde zu verlassen.

Der Informierte sah seinem Reittier kurz nach, dann schloss er die Augen und sammelte sich.

Die Gabe der Ortsversetzung war sehr selten. Mares verfügte über sie. Die einzige Person außer ihm, von der er gehört hatte, dass sie diese Fähigkeit auch besessen hatte, war eine Heilerin namens Denara aus Da`Landre gewesen.

Alles in ihm sträubte sich dagegen, diese Gabe anzuwenden, noch dazu über diese große Entfernung, doch er wusste, dass es notwendig war.

Er spürte die Aura von Keliath im 60 Landmeilen entfernten Fa`Senn und nahm sie als Wegweiser.

Dann bündelte er seine Konzentration und sammelte sie wie Wasser in einer Schale.

+Jetzt!+

Mit diesem einem Gedanken verlieh er der Gabe die Macht es zu vollbringen. Sein Körper wurde innerhalb eines Augenblicks zu einer dichten schwarzen Staubwolke mit menschlichen Umrissen, die dann explosionsartig auseinanderstrebte und verschwand.

Zur selben Zeit war Keliath in der Hafenstadt gerade dabei, sich anzukleiden. Vor wenigen Minuten hatte er den Boten von Mares empfangen und konnte sich denken, auf welche Weise der jüngere der noch lebenden Mächtigen zu ihm kommen würde.

Keliath brauchte nicht lange zu warten.

Das Zimmer war einige Augenblicke von einem dunklen, konturlosen Nebel erfüllt, der sich rasend schnell zusammenzog und zu Mares wurde.

Dieser tat noch einige unsichere Schritte und fiel dann schreiend zu Boden. Der Mächtige war nackt und bis auf die Knochen abgemagert.

Obwohl selbst noch schwach auf den Beinen, kniete sich Keliath hin und legte seine rechte Hand auf die Stirn des sich vor Schmerzen Krümmenden. Mit seiner Heilenden Kraft betäubte der Mächtige Mares' Pein.

"Ich hatte fast vergessen, wie weh es tut!"

"Es hätte dich umbringen können", meinte Keliath vorwurfsvoll.

Mühsam versuchte der Nackte sich aufzurichten, doch es gelang ihm nicht.

"Ich komme nicht hoch", stöhnte er und seine glasigen Augen, in denen alle Äderchen geplatzt waren, zeigten, dass er noch nicht ganz bei sich war.

"Ich weiß jemanden, der kann dir besser helfen als ich."

Keliath konzentrierte sich und sandte einen Gedanken zu Armaran.

"Du musst ihn so schnell wie möglich auf die Beine bringen, Heilerin", wies der Informierte sie an, als sie kurz darauf das Zimmer betrat.

"Was ist mit ihm, hat er ein Fasten Gelübde abgelegt?" erkundigte sich die Heilerin mit ihrer sonoren Stimme flapsig und rang damit sogar dem völlig ausgemergelten Mares ein schiefes Grinsen ab.

"Sagen wir mal, es ist die schnellste Methode, abzunehmen", krächzte er.

Seltsamerweise schien Armaran genau zu wissen, worauf sein Zustand zurückzuführen war.

"Ich glaube nicht, dass du dir damit Zeit gespart hast, Erhabener. Was du durch die Ortsversetzung herausgeholt hast, wird dir durch die notwendige Bettruhe wieder verloren gehen", prophezeite sie ihm, doch Mares hörte es nicht mehr, da er das Bewusstsein verloren hatte.

"Die Bettruhe kann er an Bord der Sadre haben, wenn wir zum Schrein unterwegs sind. Es ist wichtig, dass du ihn so schnell wie möglich halbwegs auf die Beine bringst", drängte Keliath die Heilerin.

"Zwei Invaliden auf dem Weg zum Immerwährenden Beschützer um die `hala zu retten. Ich sehe goldene Zeiten auf uns zukommen!" spottete Armaran und ignorierte den missbilligenden Blick des Informierten.

"Nun geh!" wies sie ihn dann an. "Ich brauche keine Zuschauer bei meiner Arbeit."

Für einen Moment schien es so, als würde der Erhabene wütend werden, aber dann lächelte er nur und meinte: "Dein Wunsch ist mir Befehl, Kräuterhexe, aber in einer Stunde will ich Mares an Bord sehen."

"Du hast ihn in einer halben Stunde, aber jetzt lass' mich allein mit ihm!"

Keliath nickte kurz und verließ das Zimmer.

"Es wird wohl notwendig sein...", murmelte sie, schloss die Augen und streckte ihre rechte Hand über den im Bett liegenden abgezehrten Körper des Informierten aus.

Langsam fing Armaran's Haut an, goldgelb zu schimmern, als wäre Honig aus ihren Poren getreten.

Nach einer Weile rann von ihren Fingerspitzen zähflüssig ein goldener Strom auf die entblößte Brust des Informierten. Die von der Heilerin abgegebene Lebensenergie drang, ohne Spuren zu hinterlassen, in den Körper des Geschwächten ein.

Nach etwa drei Minuten war es vorbei. Armaran lehnte sich seufzend zurück.

Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen und schien um Jahre gealtert.

"Hoffentlich war es das wert", sagte sie zu sich selbst und gab Mares einen Klaps auf die Backe, da sie zu schwach war, ihn mit einem Wunsch zu Bewusstsein zu bringen.

Der Informierte öffnete die Augen und brauchte nur kurze Zeit um wieder klar denken zu können.

Nachdenklich musterte er die Frau.

"Ich wusste nicht, dass das geht", brachte er nach längerem Schweigen hervor und bewies damit, dass er erkannt hatte, welcher Behandlung er seine rasche Genesung zu verdanken hatte.

"Ihr nennt euch Informierte und wisst doch vieles nicht," entgegnete Armaran müde, "denn in Wahrheit seid ihr nur Gaukler im Vergleich zu jener Hohen Gesegneten, die mich vor langer Zeit im Gebrauch meiner Gaben unterwies."

Verständnislos starrte Mares die Heilerin an.

"Eine Hohe Gesegnete hat dich unterwiesen? Sage mir ihren Namen!"

"Der ist nicht wichtig, Erhabener. Diejenige, die ich meine, ist sicher schon lange nicht mehr am Leben, obwohl ich ihr zutrauen würde, selbst den Tod zu überlisten. Doch nun geh, Keliath wartet auf dich an Bord der Sadre um die Welt zu retten."

Bei diesen Worten lächelte sie leicht. Mares hatte den Eindruck, dass sich die Heilerin schon etwas erholt hatte.

Als er aufstand und Armaran eben das Zimmer verlassen wollte, wandte er sich nochmals an sie.

"Sage es mir, wer war diese Hohe Gesegnete?"

Die Frau musterte den Mächtigen und schien zu überlegen ob sie ihm antworten sollte.

"Sie hieß Denara und lebte in Da`Landre", entgegnete Armaran schließlich und verließ ohne ein weiteres Wort das Zimmer.

 

*

 

 

Wenige Stunden später beobachteten die beiden Informierten von Keliaths Kabine an Bord der Sadre aus, wie das Schiff ablegte.

"Ich habe das dumme Gefühl, die Zeit läuft uns davon und wir schaffen es nicht mehr rechtzeitig zum Schrein", unkte Mares mit düsterem Blick.

"Ich bezweifle, dass der Schrein überhaupt in der Lage ist, uns

zu helfen", gab sein Gegenüber mit einem Blick auf die durchlöcherte Kabinentüre nicht weniger pessimistisch zurück.

"In zwei Wochen werden wir es wissen, dann muss uns das verdammte Ding Rede und Antwort stehen."

Keliath sah Mares überrascht an. Noch vor kurzem hätte es keiner der Erhabenen gewagt, so über den Immerwährenden Beschützer zu sprechen.

"Sei dir nicht so sicher, dass wir Setha erreichen. Ich würde mich nämlich nicht wundern, wenn dieses Weib plötzlich hier hereinkommt und uns auch so ein Loch verpasst", sagte Keliath, während er nervös auf und ab ging.

Unbehaglich musterte Mares die Türe und fragte sich, weshalb sie bisher noch nicht repariert worden war.

"Deine Besucherin und dieser Miller gehören sicherlich zusammen. Mich würde interessieren, woher sie kommen und was sie vom Schrein wollen."

"Es sind jedenfalls keine `hala. Vielleicht haben sie etwas mit der Heimsuchung zu tun", überlegte Keliath.

Überrascht zog der Informierte aus Gren`Volat die Augenbrauen hoch. "Glaubst du?"

"Es würde mich nicht wundern. Mich beunruhigt auch, dass wir keine Macht über die verdammte Brut haben."

Bei diesen Worten zog Keliath mit seinem Zeigefinger nachdenklich die Konturen des Loches in der Kabinentüre nach.

"Was kannst Du mir über Denara von Da`Landre sagen?" wechselte Mares das Thema.

Sein Gesprächspartner unterbrach seine Wanderung durchs Zimmer und schaute ihn verblüfft an.

"Wie kommst du auf sie?"

"Nur so," entgegnete Mares achselzuckend, "ich habe in letzter Zeit ziemlich unglaubliche Dinge über sie gehört."

"Sie lebte lange Zeit in Da`Landre, dem Dorf, aus dem ich stamme. Vor gut zwei Dekaden ließ sie sich dann eine Hütte am Rande der Großen Ebene bauen und dort haust sie jetzt."

"Warum das?"

"Sie wurde mit dem Alter immer zänkischer und hat sich mit niemandem mehr vertragen. Vielleicht liebt sie aber auch nur die

Einsamkeit, was weiß ich..."

Mit einem ärgerlichen Gesichtsausdruck gab Keliath zu erkennen, dass er nicht gerne an Denara erinnert wurde, doch der andere Informierte nahm darauf keine Rücksicht.

"Du hattest einmal Streit mit ihr, hörte ich."

"Einmal? Als sie noch im Dorf lebte, hatte ich jeden Tag Streit mit ihr!"

"Wieso, du warst doch meistens in deiner Residenzstadt Merian `Senn", wandte der Informierte aus Gren`Volat verwundert ein.

Keliath schnaubte. "Das hat sie nicht daran gehindert, mich jeden Tag zu belästigen. Wann immer sie wollte, hatte ich ihre Stimme in meinem Kopf. Wenn sie etwas für besonders wichtig hielt, schickte sie mir ihr Sendbild, das dann Anweisungen und gute Ratschläge erteilte. Sie hat sich fortwährend in meine Entscheidungen eingemischt und wusste alles besser.

Außerdem lege ich heute noch meine Hand dafür ins Feuer, dass die Alte dafür verantwortlich ist, dass der Mächtige Setener, der sich einmal mit ihr anlegte, alle Gaben verlor."

"Bemerkenswert", meinte Mares und grinste leicht.

Keliath schaute seinen Gesprächspartner ernst an.

"Du magst dich jetzt darüber amüsieren, aber glaube mir, das Weib war damals sehr gefährlich.

Ich muss zwar zugeben, dass sie in vielen Dingen recht behalten hat, wo ich anderer Meinung war, aber ich lebte früher dauernd in der Angst, dass sie mich eines Tages ausschalten und meinen Platz einnehmen würde."

"So groß war ihre Macht?"

"Ja, seit der Sache mit Setener bin davon überzeugt, dass wir damals nicht einmal zu viert mit ihr fertig geworden wären."

"Im Übrigen", Keliaths Stimme wurde zu einem vertraulichen Flüstern, "glaube ich, dass sie mindestens dreimal so lange gelebt hat als je eine `hala zuvor...

... und nun will ich nicht mehr über dieses verdammte Weib reden, wer weiß, ob sie überhaupt noch lebt", schloß Keliath unwirsch seinen Bericht.

Mares schaute sein Gegenüber nachdenklich an. "Ich bin überzeugt, dass wir sie jetzt gut gebrauchen könnten."

"Das mag schon sein," wiegelte Keliath ab, "aber mittlerweile ist sie alt und ihre Gaben sind verbraucht. Wenn sie nicht schon tot ist, dann dauert es bestimmt nicht mehr lange."

"Hat sie Nachkommen?" fragte Mares interessiert.

Keliath zuckte zusammen und sein Gesicht wurde noch düsterer. "Reden wir nicht drüber!" meinte er, doch Mares ließ nicht loker.

"Erzähl schon!"

"Sie hat noch eine Urenkelin namens Era."

"Und?" bohrte Mares nach.

"Du weißt, dass die Gaben nicht immer direkt vererbt werden. Manchmal treten sie in einer Familie nie mehr auf und gelegentlich überspringen sie einige Generationen, so wie bei Era. Sie hat offenbar alle Fähigkeiten Denara's erhalten.

Leider ist Era ein schwieriges Kind, deshalb verbot ich allen Beauftragten und Heilerinnen, sie im Gebrauch der Gaben zu unterweisen, denn das, was sie sich bisher selbst beigebracht hat, genügt schon um eine Menge Schaden anzurichten."

"Ich verstehe dich nicht, Keliath," meinte Mares. "Du weißt selbst, dass nur einer unter tausend `hala genügend begabt ist, um heilen zu können und nur einer unter etwa fünftausend ist befähigt, Beauftragter zu werden. Etwa zwei Million Kinder müssen geboren werden, bevor eines zur Welt kommt, das geeignet ist, später ein Informierter zu werden.

Können wir es uns angesichts dessen leisten, Era's Fähigkeiten brach liegen zu lassen?"

"Du siehst das falsch, Mares," wies Keliath die Kritik zurück. "Ich musste mich fragen, ob wir es uns leisten können, das Mädchen auszubilden. Sie ist asozial und total verwahrlost.

Wenn sie die Fertigkeiten ihrer Urgroßmutter im Umgang mit den Gaben erlangen würde, könnte sie zu einer großen Gefahr werden, denn Era reagiert oft aufbrausend und hat sich dann nicht mehr unter Kontrolle."

"Du machst mich neugierig, ich werde mir das Mädchen ansehen, wenn wir das alles hinter uns haben."

"Vorausgesetzt du lebst dann noch", versetzte Keliath trocken und ging an Deck, um dem neuen Kapitän der Sadre aufzutragen, noch mehr Fahrt aus dem Schiff herauszuholen, obwohl dies kaum

noch möglich war.

 

*

 

Richtet euer Augenmerk auf die Große Ebene, denn dort werden die Passager das Tor öffnen.

Wie ein riesiger, finsterer Schatten senkt sich dann die STADT über euch. Ihre Bauwerke berühren den Himmel, vom Gipfel des höchsten Berges ist ihr Ende nicht zu erkennen.

Alle Bäume, Pflanzen und Kreaturen zermalmt die STADT unter sich wie der Huf des Jahaks das Insekt.

Ihre Bewohner, zahlreich wie Sumner, breiten sich aus wie die Sachlamseuche: unbarmherzig und tödlich.

Siekennen nur sich selbst, anderes Leben ist für Sie wertlos. Jene unter euch, die überleben, werden von Ihnen geknechtet und zum Sklavendasein verdammt.

Doch seid nicht verzagt, weil eure Gaben nutzlos sind, denn der Immerwährende Beschützer wird euch beistehen. Mächtige Geschöpfe, mordlüstern wie Rorar, wird er euch zur Seite stellen, um die Heimsucher von dieser Welt zu tilgen...

 

(Aus den Alten Schriften, Große Bibliothek Grat`Hala)

 

*

 

+Wach auf, ich brauche dich!+

Müde rieb sich Termalnjong die Augen und erhob sich von seiner einfachen Schlafstätte.

+Ich komme gleich+, dachte er intensiv, während er sein Gesicht mit Wasser aus einer Blechschüssel benetzte und dann mit einem Kamm durch sein schlohweißes Haar fuhr.

+Ich bin bereit+, gab er dann mit einem Gedanken zu verstehen und hatte daraufhin für einen kurzen Moment das Gefühl, ins Bodenlose zu fallen. Für einige Sekunden wurde ihm schwarz vor den Augen.

"Ich werde mich wohl nie daran gewöhnen", murmelte er, als es vorbei war und er sich im Inneren Bereich wieder fand.

+Ich weiß, du liebst diese Art der Fortbewegung nicht, aber ich habe eine wichtige Aufgabe für dich und es bleibt nicht mehr viel Zeit...

Präge dir genau ein, was ich dich jetzt wissen lasse, denn ich offenbare dir wichtige Dinge aus Vergangenheit und Zukunft dieser Welt.+

Termalnjong konzentrierte sich und lauschte der Stimme in seinem Kopf, die ihn über Begebenheiten informierte, die teils weit in der Vergangenheit lagen und teils erst in einer Dekade eintreten würden.

+...es hängt also alles davon ab, dass du die Hohen Gesegneten und den Einäugigen findest. Sage ihnen, was sie tun müssen und bringe sie wohlbehalten zu den Aschereide.+

Termalnjong schwirrte der Kopf von den Dingen, die er soeben erfahren hatte. Der Schrein kannte offenbar die Zukunft, oder wenigstens Teile davon.

+Keliath und Mares sind mit einem Schiff auf dem Weg zu mir, aber sie werden nicht mehr rechtzeitig eintreffen, wenn ich sie nicht herbeischaffe. Der Transport wird sie ziemlich mitnehmen, deshalb musst du ihnen helfen, wenn sie angekommen sind+, drang die Anweisung des Immerwährenden Beschützers in seine Gedanken.

Der Diener nickte nur. Es war nicht das erste Mal, dass der Schrein jemanden auf diese Weise zu sich holte. Mehrere Informierte, die geglaubt hatten, sich gegen ihn auflehnen zu können und seinem Ruf nicht gefolgt waren, hatten sich von einer Sekunde zur anderen schreiend vor Schmerzen auf dem kühlen Steinboden des Inneren Bereiches wieder gefunden.

Aus eigener Erfahrung wusste der Diener, dass der Transport umso unangenehmer wurde, je größer die zurückgelegte Strecke war.

Der Erhabene Selahat hatte vor etwa 700 Jahren so einen Transport nicht überlebt.

Termalnjong war heute noch der Überzeugung, dass es die Absicht des Schreines gewesen war, den Tod des missliebigen Informierten auf diese Weise herbeizuführen.

Der Diener ging zu einem bestimmten Stelle an der Wand im Inneren Bereich. Mit einer beiläufigen Bewegung strich er über einige dort angebrachte Schriftzeichen, worauf ein in die Mauer eingelassenes Fach sichtbar wurde.

Währenddessen wurde ein großer Teil des Inneren Bereiches von einer dunklen, nebelartigen Staubwolke ausgefüllt. Diese verdichtete sich rasend schnell zu zwei Körpern, die im Augenblick ihrer Entstehung leblos zu Boden fielen.

In dem Fach, das der Diener geöffnet hatte, lag ein klobiger, faustgroßer Gegenstand, der mit einem Griff versehen war und an einer Seite spitz zulief.

Termalnjong nahm ihn und ging zu den beiden Mächtigen. Er beugte sich zu ihnen hinunter und berührte zuerst Mares und dann Keliath mit dem spitzen Ende des Gegenstandes im Nacken.

Im Moment des Kontakts war ein kurzes Zischen zu hören. Kurz darauf begannen sich die beiden Informierten wieder zu regen.

Keliath kam als erster wieder zu Bewusstsein.

Mühsam stand er auf und presste eine Hand an seinen Nacken.

Sein Blick fiel auf Mares, der immer noch am Boden lag. Dann wandte er sich an Termalnjong.

"Er ist sehr geschwächt, könnt Ihr etwas für ihn tun, Diener?"

Der Alte schaute Keliath ausdruckslos an. Dieser begann sich unter dem Blick der wasserblauen Augen unbehaglich zu fühlen.

Niemand wusste genau, wer Termalnjong war, fest stand jedoch, dass er weit über tausend Jahre alt sein musste, da er in den Überlieferungen der Informierten schon von Anbeginn im Zusammenhang mit dem Schrein erwähnt wurde.

Man erzählte sich, dass er keinerlei Begabung hatte, aber auch auf deren Anwendung nicht reagierte. Bis vor kurzem hatte Keliath bezweifelt, dass es so etwas gab, nun wusste er es besser.

"Die Dosis, die Mares aus der Injektionspistole erhalten hat,

wird ausreichen", erklärte der Weißhaarige in einem Tonfall, der keine Widerrede zuließ.

Wie um diese Worte zu bestätigen, begann sich Mares zu regen.

Termalnjong ging zur Wand und kam mit zwei Gläsern wieder, die mit einer klaren Flüssigkeit gefüllt waren.

"Trinkt dies, dann werdet ihr Euch gleich besser fühlen."

Keliath stellte verblüfft fest, dass die Stimme des Dieners mitfühlend geklungen hatte.

Die Erhabenen leerten die Becher und merkten, wie sie sich rasch erholten.

"Der Schrein wird in Kürze mit euch Verbindung aufnehmen. Ihr werdet von ihm einen Auftrag erhalten, bei dessen Ausführung ich euch begleite."

Mares machte ein finsteres Gesicht. "Wir brauchen keinen Aufpasser!" schnauzte er Termalnjong an.

Der Diener blieb von der heftigen Entgegnung unberührt.

Mit mildem Lächeln erklärte er: "Ich bin kein Aufpasser. Der Schrein schickt mich zu Eurem Schutz mit."

Mares musterte das Männchen. Termalnjong war nur etwas über fünf Fuß groß und spindeldürr. Die fremdartige Kleidung, die er trug, schlotterte um seine Arme und Beine.

"Ich bin überzeugt, Ihr werdet uns verteidigen wie ein wilder Rorar seine Jungen", spottete der Erhabene.

"Bitte beleidige ihn nicht!" wies Keliath ihn zurecht.

Termalnjong musterte Mares kühl. Dieser merkte, dass die Schmähung den Diener nicht im mindesten berührt hatte.

"Dort wo ich hergekommen bin, Erhabener, würdet Ihr die nächste Stunde nicht überleben, hätte man es darauf abgesehen", stellte der Weißhaarige ruhig fest.

In diesem Moment entstand in der Mitte des gewölbeartiges Raumes eine goldene Spindel, das Symbol des Schreines.

In den Köpfen der Anwesenden entstanden die Worte des Immerwährenden Beschützers.

+Es bleibt keine Zeit für Förmlichkeiten und lange Erklärungen,

also hört gut zu. Die Heimsuchung steht unmittelbar bevor. Manipulationen an der Struktur zum Zweck des Einzeldurchganges haben in letzter Zeit deutlich zugenommen. Viele von IHNEN sind bereits angekommen. Jetzt aber reißen SIE das Gefüge großflächig auf. Ich gehe davon aus, dass in Kürze ein umfangreicher Durchgang erfolgt. IHR erster Schritt wird sein, mich zu finden und zu vernichten. Ich werde mich deshalb IHREM Zugriff entziehen.  Die einzige Möglichkeit, IHNEN Einhalt zu gebieten, sind die Aschereide, die sich auf Rhetana befinden.

Eure Aufgabe wird es sein, diejenigen zu finden, die sie dort holen werden und auch in der Lage sind, sie zu gebrauchen. Wendet euch an Denara, sie war schon auf Rhetana und kennt das Geheimnis der Aschereide+.

"Waaas?" würgte Keliath mit hochrotem Kopf hervor.

+Termalnjong ist bereits Träger eines Aschereide. Ihr müsst aber noch weitere holen, um SIE zu bezwingen.+

Der Schrein unterbrach sich und schwieg für einige Zeit.

Dann fuhr er fort: +Soeben ist es geschehen, SIE sind angekommen. Ich bringe euch nun zurück auf das Schiff und entziehe mich dann IHREM Zugriff. Denkt daran, von eurem Handeln hängt der Fortbestand der 'hala ab!+

Im nächsten Moment fanden sich die Informierten und der Diener an Bord der Sadre wieder, dann verloren sie das Bewusstsein.

 

2. Kapitel

 

Ächzend erhob sich Denara von ihrem Lager in der Holzhütte und ging ins Freie. Die Große Ebene lag ruhig und friedlich vor ihr. "Ich darf nicht mehr länger warten", murmelte die Alte und schlurfte zurück in die Hütte. Dort ging sie zu dem morschen Schrank, öffnete ihn und holte eine kleine, eisenbeschlagene Holztruhe hervor.

Unverständliches vor sich hinmurmelnd stellte sie die Truhe auf den grob gezimmerten Tisch und machte sie auf.

Vorsichtig, als handle es sich um etwas sehr kostbares, griff Denara hinein und holte einen kugelförmigen Klumpen heraus, der die doppelte Größe einer Männerfaust hatte und von schmutziggelber Farbe war.

Andächtig betrachtete die Alte das Ding eine Weile und ein jugendliches Lächeln überzog ihr faltiges Gesicht.

Dann schlurfte sie zurück zu der einfachen Pritsche und legte sich hin. Während sie mit einer Hand die Kugel an sich presste, öffnete sie mit der anderen die Schnüre an der Vorderseite ihres sackähnlichen Gewandes, bis ihre verwelkten Brüste zum Vorschein kamen.

Mit beiden Händen drückte sie dann den Klumpen an ihr Brustbein und schloss die Augen. Nach einiger Zeit verlor die Kugel ihr schmutziges Aussehen, begann zu schimmern und schien an der Oberfläche zu schmelzen.

Zähflüssig wie Honig rann die goldgelbe Substanz auf Denaras entblößte Brust herab und drang darin ein, ohne Spuren zu hinterlassen.

"Aaah!" Ein tiefes, beinahe wollüstiges Stöhnen entrang sich der Kehle der Alten, während der Klumpen immer weiter schrumpfte und schließlich ganz in ihr aufging.

Denara schloss die Augen und stieß einen tiefen Seufzer aus, bevor sie sich erhob. Prüfend betrachtete sie sich in dem verschmutzen Spiegel an der Wand und sah darin eine alte Frau, die jedoch keineswegs einen gebrechlichen Eindruck machte, sondern energisch und vital wirkte.

"Es gibt keine Zeit zu verlieren", meinte sie zu sich selbst.

Um ihre Mundwinkel lag das leichte, spöttische Lächeln, das früher charakteristisch für sie gewesen war.

Während sie die Hütte verließ, beglückwünschte sie sich dazu, vor vielen Jahren etwas von ihrer Lebensenergie in Form dieses Klumpens gespeichert zu haben. Allerdings erinnerte sie sich heute noch mit Grauen daran, wie schlecht es ihr anschließend mehrere Tage lang gegangen war.

"Ich hoffe, es hält lange genug an", murmelte sie, während sie regungslos am Boden sitzend auf die Große Ebene, die in die Morgendämmerung gehüllt war, hinabblickte.

Ihre Augen wurden zu schmalen Schlitzen, als sie ein seltsames Flimmern in der Luft nahe des Zentrums der Ebene bemerkte.

Geschmeidig erhob sich die Alte und betrachtete prüfend das Phänomen.

Die Erscheinung wurde von Minute zu Minute dunkler und schien dabei zu schrumpfen. Nach einiger Zeit schwebte im Zentrum der Ebene ein pechschwarzer Fleck.

"Sie haben das Tor geöffnet...", murmelte Denara.

Ein immenser Sog ging von diesem Gebilde aus. Heulend stürzten die Luftmassen darauf zu. Innerhalb weniger Minuten entwikelte sich ein Sturm, der alles, was nicht niet und nagelfest war, mitriss.

Denara baute einen Schutz um sich auf und war für alle Gewalten dieser Welt nicht mehr erreichbar.

"Hoffentlich dauert das nicht allzu lange", brummte sie. In ihrem Gesicht spiegelte sich Besorgnis wider. Es kostete enorme Kraft, einen so wirksamen Schutz aufrecht zu erhalten, außerdem war ihre Stärke war nur geborgt.

Mit einem Mal hörte der Sturm auf, schlagartig, als hätte man ihn abgedreht wie die Flamme einer Öllampe.

Dann hallte ein gewaltiger Donnerschlag über die Große Ebene. Ein Licht, greller und weißer als tausend Sonnen erstrahlte für einige Sekunden.

Eine Druckwelle fegte über die Ebene hinweg, gegen die der Sturm zuvor nur ein laues Lüftchen gewesen war. Sie entwurzelte die Bäume und schleuderte sie Dutzende von Landmeilen durch die Luft.

Mit einer letzten Anstrengung hielt die Alte ihren Schutz aufrecht und bewahrte sich damit vor einem schnellen Tod. Aber als die Druckwelle abgeebbt war, verließen Denara ihre Kräfte und sie verlor das Bewusstsein.

 

*

 

Mühevoll hob die Greisin den Kopf, als sie nach Stunden ihr Bewusstsein wieder erlangte.

Sie lag bäuchlings im Schmutz und fühlte, dass beide Beine und ihr linker Arm mehrmals gebrochen waren. Nur ein kleiner Rest der Lebensenergie war noch übrig.

Es dauerte einige Minuten, bis ihre Augen wieder etwas erkennen konnten. Ihr Verstand weigerte sich, zu glauben, was sie sah.

Vor ihr breitete sich eine Stadt aus, die bestimmt tausendmal so groß war wie Grat`Hala.

Die Gebäude waren so hoch, dass sich der Leuchtturm von Fa`Senn daneben wie ein Spielzeug ausgenommen hätte.

Von der Großen Ebene war nichts mehr zu sehen außer einem einzigen, riesigen Häusermeer.

Als Denara versuchte, sich etwas aufzurichten, wurde ihr schwarz vor den Augen.

Sie wurde erneut ohnmächtig und kam erst nach längerer Zeit wieder zu sich, als ein stechender Schmerz durch ihre Rippen fuhr.

Als die Geschundene aufsah, bemerkte sie die Anwesenheit einer Gruppe von etwa zehn Männern und Frauen, die eine seltsame Uniform trugen und die alte Heilerin angafften, als wäre sie ein exotisches Tier.

Eine rothaarige Frau aus diesem Kreis versetzte ihr einen Tritt. Nun wusste die Alte, warum die Rippen so schmerzten.

"Wo kommst du denn her, Halbäffin? Du müsstest doch tot sein, wenn du hier in der Nähe warst."

Denara musterte die Fremde mit einem spöttischen Lächeln und erntete dafür noch einen Fußtritt an den Brustkorb.

Eine Schmerzwelle überflutete die Greisin.

Sie erkannte, dass mehrere Rippen gebrochen waren, verzichtete jedoch darauf, die letzte ihr verbleibende Energie für den Heilungsprozess zu verwenden.

Die Fremde nahm einen Gegenstand aus einer Tasche an ihrem Gürtel und richtete ihn auf Denara's Kopf.

"Antworte, Halbäffin, sonst befördere ich dich mit diesem Ding in die Hölle!"

Mit letzter Kraft richtete sich die Alte trotz ihrer gebrochenen Beine auf und sah das Weib durchdringend an.

"Für dich und das, was mit dir gekommen ist, gibt es auf dieser Welt keinen Platz."

Mit lauter Stimme wandte sich die Heilerin dann an die anderen Fremden. "Geht dahin zurück wo ihr hergekommen seid, oder Senholzer wird euer Grab!"

Sie hatte kaum ausgesprochen, als das Ding in der Hand des rothaarigen Weibes ein kurzes, trockenes Geräusch von sich gab. Die Alte verspürte einen Schlag in der Magendgegend. Im selben Moment färbte sich ihr abgerissenes Leinenhemd am Bauch blutrot und höllische Schmerzen jagten durch ihre Eingeweide.

Es gelang Denara jedoch, auf den Beinen zu bleiben. Sie ging sogar noch einen Schritt auf die Rothaarige zu, die offenbar die Anführerin der Gruppe war.

"... und was dich betrifft, du Metze, wir werden uns wieder sehen, auch wenn du's jetzt nicht glauben magst. Du wirst noch vor mir an dem Ort sein, den du Hölle nennst."

Unwillkürlich wich die Fremde zurück und starrte das alte Weib, das ihr so furchtlos gegenüber trat, hasserfüllt an.

"Ich blase dir das Hirn aus deinem Schädel, du Kreatur!"

Das Projektil durchschlug Denara's Kopf. Sie wurde durch den Schuss von den Beinen gerissen und blieb leblos liegen.

"Sorgt dafür, dass der Kadaver wegkommt!" befahl die Frau und warf einen verächtlichen Blick auf die Leiche der Heilerin, die mit zerfetztem Schädel und seltsam verrenkten Gliedern im Gras lag, während am Rand der Großen Ebene zum ersten Mal die Sonne hinter einem riesigen Meer aus Hochhäusern unterging.

 

*

 

"Wo hast du dich wieder rum getrieben, du Inkarnation des Ungehorsams?" fauchte Targat das schmuddlige Mädchen an, als es über das offene Fenster in ihr Zimmer kletterte.

Era zuckte zusammen wie ein ertappter Dieb und musterte ihren Pflegevater finster. Dieser ließ keine Gelegenheit aus, sie zu schikanieren. Schon oft hatte Era mit dem Gedanken gespielt, es ihm heimzuzahlen, aber Targat war nicht umsonst Beauftragter der Informierten für Da`Landre. Er verfügte über mächtige Gaben, denen das Mädchen nicht viel entgegenzusetzen hatte.

"Ich hatte dich doch gebeten, nachts nicht mehr herumzustreunen", fuhr er mit ruhiger, fast freundlicher Stimme fort.

Ein flaues Gefühl machte sich in Era breit, da sie wusste, dass Targat in diesem Ton nur mit ihr sprach, wenn er außer sich vor Wut war.

"Es ist jetzt fast Mitternacht. Ich habe bemerkt, dass du vor drei Stunden deine Kammer durch das Fenster verlassen hast. Also, lege Deinen Starrsinn ab und erleichtere dein Gewissen. Wo

bist du gewesen?"

Die Ton des Beauftragten war nun so sanft wie der eines Ker`Mellischen Wanderpredigers.

Da löste sich alles, was sich im Laufe der Zeit in Era aufgestaut hatte. Mit überschnappender Stimme schrie sie ihn an: "Ich bin jetzt beinahe siebzehn Jahre alt und habe genug davon, dir über alles Rechenschaft ablegen zu müssen, was ich mache.

Es genügt schon, dass ich dir für dieses schäbige Zimmer und das bisschen, das ich zu fressen brauche, den lieben langen Tag die Dienstmagd machen muss und geduldig deine Gemeinheiten ertrage. Aber damit ist jetzt Schluss. Ich gehe jetzt und will nie wieder etwas mit dir zu tun haben!"

Era dreht sich um und wollte das Zimmer wieder durch das Fenster verlassen, da spürte sie grausame Schmerzen in jeder Faser ihres Körpers.

Wimmernd wand sie sich am Boden, während Targat sie mit der Macht seiner Gedanken weiter peinigte. Verzweifelt versuchte das Mädchen, mit ihren Gaben gegen die seinen anzukämpfen.

Genüsslich weidete sich der Beauftragte an den Qualen des Mädchens und amüsierte sich über dessen hilflose Versuche, ihm Widerstand zu leisten.

"Du hast Talent, kleine Göre, aber leider fehlt dir die Ausbildung," meinte er hämisch und ließ es nach langen Minuten endlich genug sein.

Schweißgebadet lag das Mädchen am Boden und zitterte am ganzen Körper.

"Hör' gut zu, was ich dir jetzt sage. Ich bin mit meiner Geduld am Ende. Wenn du noch einmal gegen meine Anweisungen handelst, war dies nur ein kleiner Vorgeschmack dessen, was auf dich zukommt. Also dann, Gute Nacht!"

Mit selbstzufriedenem Lächeln verließ Targat das Zimmer.

Era warf sich auf's Bett und vergrub ihr Gesicht im Kissen. Der hagere Körper des Mädchens wurde von Weinkrämpfen geschüttelt. Es dauerte mehrere Stunden, bis sie sich wieder gefaßt hatte. Dann packte sie das Nötigste ihrer wenigen Habe zusammen und verließ leichenblass im Gesicht ihre Kammer durch das Fenster, in der festen Absicht, das Haus ihres Peinigers nie mehr zu betreten.

 

*

 

+Senar, mach mir bitte auf!+

Der Junge fuhr in seinem Bett hoch, als hätte man ihm einen Kübel kalten Wasser übergegossen.

"Was ist los, wer ist da?" rief er laut und schaute sich verwirrt in seinem Zimmer um.

+Sei leise! Ich bin's, Era. Bitte mach' mir das Fenster auf, ich muss mit dir reden!+

Er jetzt merkte Senar, dass die Stimme nur in seinem Kopf zu hören war und stieg aus dem Bett, um das Fenster zu öffnen.

"Beim Immerwährenden Beschützer, wie siehst du denn aus!" entfuhr es ihm, als er das Mädchen sah.

"Kann ich zu dir?"

"Natürlich! Warte, ich helfe dir", flüsterte er, reichte ihr die Hand und zog sie herein.

Mit rotgeränderten Augen sah das Mädchen ihren Freund hilflos

an, unfähig ein Wort zu sagen. Sie zitterte am ganzen Körper.

"Era, meine Güte, was ist los mit dir?" stieß Senar betroffen hervor und drückte sie voller Mitleid an sich.

"Ich weiß nicht mehr, wo ich hin soll!" rief das Mädchen verzweifelt aus und fing an, hemmungslos zu weinen.

Bestürzt hielt der Junge die zerbrechlich wirkende Gestalt in seinen Armen und fing an, sich Sorgen zu machen. In so einem Zustand hatte er Era noch nie gesehen. Sie wirkte völlig hilflos und war am Ende ihrer Kräfte.

"Was ist los? Erzähl's mir!" forderte er sie auf. Schluchzend klammerte sie sich an ihn und berichtete, immer wieder unterbrochen von Weinkrämpfen, von dem, was vorgefallen war.

"Dieser Mistkerl!" stieß Senar hervor, als sie geendet hatte. Seine Augen funkelten vor Zorn.

"Heute Nacht bleibst du hier, du kannst mein Bett haben, ich schlafe auf dem Boden. Morgen werde ich mit meinem Vater reden, er muss dir helfen oder ich bin nicht mehr länger sein Sohn!"

Senar hielt seine Freundin noch eine Weile tröstend im Arm, dann forderte bei beiden die Müdigkeit ihren Tribut. Sie legten sich hin und waren bald darauf eingeschlafen.

Era wurde, gerade als ihr Schlaf die tiefste Phase erreicht hatte, von etwas in ihrem Inneren geweckt. Sie wusste, dass sich ihre Gaben bemerkbar machten, aber nicht warum. Draußen dämmerte der neue Morgen. Sie fühlte sich noch immer müde und ausgelaugt. In ihr war jedoch ein bohrendes Gefühl der Gefahr, das sie nicht mehr zur Ruhe kommen ließ. Zum tausendsten Mal verfluchte sie die Tatsache, dass ihre Gaben nicht geschult waren und sie ihr Talent deshalb nur zu einem Bruchteil nutzen konnte.

Die Ahnung einer drohenden Gefahr wurde immer stärker und ließ sie nicht mehr zur Ruhe kommen. Schweißgebadet und am ganzen Körper zitternd setzte sich das Mädchen im Bett auf und überlegte, ob sie Senar wecken sollte.

Vergeblich kämpfte sie gegen die immer stärker werdende Panik in ihrem Inneren an.

"Was hast Du, Era?" fragte Senar, der plötzlich neben dem Bett stand.

Era fühlte sich unendlich erleichtert, dass ihr Freund aufgewacht war, obwohl sie wusste, dass er ihr nicht helfen konnte.

"Irgend etwas schlimmes geschieht, ich kann es spüren."

Der Junge wusste, dass er Era's Worte nicht auf die leichte Schulter nehmen durfte.

"Ich hole meinen Vater."

Era richtete sich plötzlich kerzengerade auf.

"Nein, Senar, bleib hier und lass mich nicht allein, es geht gleich los!" kreischte sie Panik erfüllt.

"Was geht los?" fragte der Junge.

"Ich weiß es nicht. Irgendetwas schreckliches. Ich bin so durcheinander, ich glaube, ich verliere gleich den Verstand", stammelte das Mädchen.

"Reiß' dich zusammen, Era". Der Junge nahm ihre Hände in die seinen und fühlte im selben Moment ebenfalls die unmittelbar bevorstehende Gefahr.

Mit absoluter Klarheit erkannte Senar, dass es von seiner Freundin abhing, ob sie die nächsten Minuten überleben würden.

"Beruhige dich und mach' einen Schutz für uns!"

Seine Worte hallten in Era nach.

"Einen Schutz für uns, ja..." murmelte sie und fühlte, wie alle Gedanken in ihr nebensächlich wurden bis auf den, für ihren einzigen Freund und sich einen Schutz aufzubauen.

Sie schloss die Augen, umklammerte fest Senars Hände mit den ihren und fing an, leise zu singen. Es war eine ruhige Melodie,

die Senar noch nie zuvor gehört hatte. Der Oberkörper des Mädchens wiegte langsam vor und zurück. Der Junge spürte, wie in ihm zuerst leicht, dann immer stärker ein Gefühl der Sicherheit entstand.

Die Minuten vergingen und der Gesang des Mädchens wurde, obwohl sie ihre Stimme nicht erhob, immer mächtiger. Er schien eine ungeheuere Kraft auszustrahlen, die auch Senar stärkte. Der Junge hatte plötzlich das Gefühl, nichts und niemand könne ihm mehr etwas anhaben. Zögernd begann er die monotone Weise des Mädchens zu begleiten. Der letzte Rest von Angst und Unsicherheit fiel von ihm ab, er fühlte sich nun mächtig und unverwundbar.

Erst jetzt bemerkte er, dass sie in eine leuchtende Aureole gehüllt waren. Ein steter Strom von Kraft strömte aus den Berührungspunkten ihrer Hände dem Schutz, der sie umgab, zu. Senar lächelte Era an und sie lächelte zurück. Er fühlte sich eins mit ihr auf einer Ebene, die weit über der körperlichen lag.

Im nächsten Moment brach die Hölle los. Ein fürchterlicher Donnerschlag krachte durch die stille Morgendämmerung. Das Haus wurde von einer Druckwelle in seine Bestandteile zerlegt und die Trümmer sausten wie Geschosse durch die Luft.

Blitze zuckten durch die Aureole, von der das Paar umgeben war, aber sie hielt stand.

Wie ein Felsen in der Brandung saßen die beiden am Boden, hielten sich an den Händen und gaben sich gegenseitig Kraft, den Schutz aufrecht zu erhalten, während Da`Landre zerstört wurde.

Als die Druckwelle verebbte, war Totenstille.

Erst Stunden später erwachten die beiden aus ihrer Trance und merkten, dass der Schutz sie sehr viel Kraft gekostet hatte.

Era hatte Ringe unter den Augen wie die fomtsüchtigen Straßenmetzen in Grat`Hala und der Junge war weiß wie die Wand.

Fassungslos starrten sie das an, was von dem Dorf noch übrig geblieben war. Kein Stein stand mehr auf dem anderen und alle Bäume weit und breit waren entwurzelt worden.

Überall hörte man das Stöhnen und Wehklagen der Verletzten. Diejenigen, die noch am Leben waren und nicht unter den Trümmern lagen, gruben mit bloßen Händen nach verschütteten Angehörigen oder ihrem Hab und Gut.

Targat lief zwischen den Überlebenden herum und organisierte die Hilfsmaßnahmen. Er war offenbar unverletzt geblieben.

Am Spätnachmittag waren alle Verschütteten geborgen. Mehrere Heilerinnen aus Nachbardörfern waren eingetroffen und kümmerten sich um die Verletzten.

Am Abend zog der Beauftragte Bilanz. Es stellte sich heraus, dass nur 119 der ursprünglich 431 Dorfbewohner überlebt hatten. Vierzehn von ihnen waren so schwer verletzt worden, dass keine Aussicht bestand, ihr Leben zu retten.

Ker gehörte zu ihnen. Eine Heilerin namens Krala aus dem Dorf Fre Losat bemühte sich verzweifelt, seine schweren inneren Verletzungen zu beheben, die ein auf ihn herabstürzender Dachbalken

verursacht hatte. Nur seiner starken Muskulatur, die einiges von der Wucht abgefangen hatte, verdankte der Schmied, dass er noch am Leben war.

Weinend hielt Senar die Hand seines Vaters. Die Mutter des Jungen war tot aus den Trümmern ihres Hauses geborgen worden und wenn nicht noch ein Wunder geschah, würde Ker ebenfalls sterben.

Ratlos stand Era daneben und spürte, wie gering die Gaben der Heilerin waren, die sich um Ker bemühte.

"Bitte, laß es mich einmal versuchen!" wandte sich das Mädchen an die Frau, deren Miene von Minute zu Minute mehr ihre Hilflosigkeit ausdrückte.

"Bist du eine Heilerin?" fragte sie mißtraurisch.

"Ich? Äh, eigentlich nicht", stammelte Era verlegen.

"Was willst du dann?"

"Ich bin Era, vielleicht hast du schon einmal von mir gehört?" versuchte es das Mädchen andersrum.

Krala zuckte zusammen und verzog das Gesicht als hätte sie in eine saure Frucht gebissen.

"Du bist also Denara's Urenkelin. Dein Ruf eilt dir voraus. Ich habe tatsächlich schon von dir gehört, aber nichts Gutes."

"Bitte, du weißt, dass ich über starke Gaben verfüge. Lass es mich versuchen!"

Die Heilerin bemerkte den Hoffnungsschimmer im Gesicht des Jungen und wurde nachdenklich. Sie wusste, dass man Ker nicht mehr helfen konnte. Warum sollte sie also ablehnen?

"Also gut, meinetwegen. Versuche dein Glück!" entschied Krala, als ihre Überlegungen an diesem Punkt angekommen waren.

Das Mädchen verlor keine Zeit und beugte sich über den schwer verletzten Vater des Jungen.

Im selben Moment brandete eine Woge von Schmerzen durch ihren Körper und sie fiel neben Ker ins Gras.

Durch den Tränenschleier, der sich vor ihre Augen gelegt hatte, bemerkte sie Targat.

"Du hast dich wieder ohne meine Zustimmung aus dem Haus geschlichen. Ich hatte dir gesagt, was passiert, wenn du noch einmal

gegen meine Anweisungen handelst!" stellte der Beauftragte mit ruhiger Stimme fest.

"Was hast du mit mir vor?" erkundigte sich das Mädchen angstvoll.

"Ich werde dich jetzt nach Hause bringen. Dort kommst du für einige Zeit an einen sicheren Ort, wo du keinen Blödsinn mehr anstellen kannst, während ich hier mit Wichtigerem beschäftigt bin."

Era begriff sofort. Offenbar hatte es Targat geschafft, sein Haus vor der Vernichtung zu bewahren.

Mit dem sicheren Ort meinte er das Verließ im Keller, das als Dorfgefängnis genutzt wurde.

Diejenigen, welche dort schon einmal eingesperrt worden waren, überlegten es sich, ob sie durch ihr Verhalten nochmals einen Grund boten, dass man dorthin zurückbrachte.

Das Verließ war ein finsteres Loch mit kahlen Wänden. Der einzige Einrichtungsgegenstand bestand aus einem Blecheimer für die Exkremente. Zum Schlafen blieb nur der Steinboden, der mit verfaultem Stroh ausgelegt war.

Era wusste, dass ihre einzige Chance darin bestand, ihren Erzieher um Gnade anzuflehen.

"Habt Erbarmen, Herr! Ich werde künftig immer gehorchen, aber lasst mir bitte Senars Vater helfen!"

Tränen liefen über das Gesicht des Mädchens, während sie verzweifelt bettelte.

Ein zufriedener Ausdruck überzog Targat's Gesicht. Endlich hatte er ihren Widerstand gebrochen.

"Du und jemanden helfen?" höhnte er. "Du kommst jetzt sofort mit, sonst werde ich dir helfen!"

"Nein Bitte, Herr, lasst es mich versuchen, dann komme ich sofort mit!"

Eine neue Schmerzwelle durchflutete sie, als der Beauftragte rücksichtslos seinen Gaben an ihr freien Lauf ließ.

"Beauftragter, glaubt Ihr nicht, dass Ihr etwas zu streng seid?" wandte Krala vorsichtig ein, während man ihrem Gesichtsausdruck deutlich entnehmen konnte, dass ihr solche Erziehungsmethoden nicht gefielen.

Targat ging einige Schritte auf die Frau zu, beugte sich herab, so dass sein Gesicht nur wenige Zoll von dem ihren entfernt war und fragte mit gefährlicher Ruhe: "Willst du mich kritisieren, Heilerin?"

Diese hielt seinem Blick nur kurz stand, senkte dann den Kopf und murmelte: "Nein, Beauftragter. Bitte vergebt mir meine Anmaßung."

Währenddessen hatte Era das Bewusstsein verloren, da Targat ihr während der ganzen Zeit, als er sich mit der Heilerin auseinandersetzte, Schmerzen zugefügt hatte.

"Oh, es ist ihr wohl zuviel geworden", spottete er, hob das Mädchen auf, warf es sich wie einen Sack über die Schultern und machte sich auf den Heimweg.

Senar hockte mit leerem Gesichtsausdruck neben seinem sterbenden Vater. Der Beauftragte hatte ihn, als er spürte, dass der Junge seiner Freundin zu Hilfe kommen wollte, in einen tranceartigen Halbschlaf versetzt.

"So ein Dreckskerl!" fluchte Krala, als der Beauftrage außer Hörweite war und versuchte weiter, Ker's Leben zu retten.

 

*

 

Era erwachte durch ein Gefühl, als hätte jemand sie leicht gezupft. Müde und ausgebrannt starrte sie von ihrem Strohlager auf die schwere Eisentüre, während der letzte Schimmer der untergehenden Sonne durch die kleine, vergitterte Luke in die Zelle fiel.

Dem Mädchen war jetzt alles egal, sie hatte nur noch den Wunsch zu sterben.

+So etwas solltest du nicht denken, Era. Sterben ist nicht so schön, wie du vielleicht glaubst!+

Mit einem schrillen Schrei fuhr das Mädchen in die Höhe und sah sich Panik erfüllt um. Sie hatte die Worte gehört, aber es war außer ihr niemand in der Zelle. Wurde sie langsam wahnsinnig, oder war es Targat, der sie weiter peinigen wollte?

"Targat, hör auf mich zu quälen!" schrie Era verzweifelt.

+Beruhige dich, Kind. Der Beauftragte hat nichts damit zu tun.+

Das Mädchen horchte in sich hinein und stellte fest, dass die Stimme in ihrem Kopf entstand, so als wäre dort ein zweites Bewusstsein.

"Jetzt ist es passiert, ich verliere den Verstand", murmelte sie resignierend und hockte sich auf den Boden.

+Was man nicht hat, kann man auch nicht verlieren+, meinte die Stimme in ihrem Kopf mit gutmütigem Spott.

Jetzt spürte es Era ganz deutlich: Sie war nicht mehr allein in ihrem Körper.

+Wer bist du?+ fragte sie zaghaft in sich hinein.

+Du kennst mich doch, denke mal nach!+

Era erfasste das zweite Ich in ihrem Körper immer deutlicher. Sie spürte, dass dieses Bewusstsein sehr mächtig war, und es war

ihr irgendwie vertraut. Für einen kurzen Augenblick glaubte sie, die Wahrheit erkannt zu haben. Doch es konnte nicht sein, nein, der Unterschied war einfach zu groß.

+Du darfst nicht vergessen, dass ein alternder Körper die Seele und den Geist immer mehr einengt+, meinte die Stimme in ihr ruhig.

"Denara!" rief das Mädchen in einer Mischung von Überraschung und Entsetzen.

+Ja, Era, ich bin es+, bestätigte das Bewusstsein sanft.

+Geh sofort aus meinem Körper, du alte Hexe, oder ich schmeiße dich eigenhändig raus!+ giftete das Mädchen auf Gedankenebene ihren "Gast" an.

+Wie willst du das anstellen? Du bist am Ende deiner Kräfte. Targat hat Dich zermürbt. Er wird dich ganz zerstören, wenn ich dir nicht helfe.+

Era antwortete nicht, sie wusste, dass ihre Urgroßmutter recht hatte. Außerdem fühlte sie, dass diese Denara anders war, als jene, die sie kennengelernt hatte. Etwas herzliches und liebevolles ging von ihrem Bewusstsein aus. Widerwillig fühlte sich das Mädchen zu ihr hingezogen.

+Paß auf, Schäfchen,+ fühlte Era die warmherzige Stimme in ihrem Kopf, +ich weiß, ich war oft ekelhaft zu dir, aber durch die Beschwerden des Alters wird man halt so.

Mein Körper wurde verdammt alt, viel älter als es ihm zustand. Zum Schluß war er nur noch ein häßliches, quälendes Gefängnis. Nun ist er tot, aber mein Ich existiert weiter, weil es in dir Zuflucht fand.+

+Du hast dem Tod getrotzt?+ fragte das Mädchen respektvoll.

+Noch nicht ganz. Ich bin auf deine Hilfe angewiesen. Kann ich mit dir rechnen?+

+Ich weiß nicht...+, entgegnete Era zögernd.

+Wir haben nicht viel Zeit+ drängte Denara. +Unser beider Bewusstsein muss bald verschmelzen, sonst wird unser Verstand Schaden nehmen, wir würden beide wahnsinnig. Aus Era und Denara muss Erdena werden, so wie aus Dena und Raha Denara geworden ist.+

Die Augen des Mädchens weiteten sich ungläubig.

+Du bist schon einmal mit einem anderen Bewusstsein verschmolzen?+

+Ja, ein Teil meines Ich's wurde als Dena geboren. Sie verschmolz nach ihrem Tod mit ihrer Enkelin Raha. Allerdings hatten sich die beiden schon zu Dena's Lebzeiten gut verstanden, weshalb es bei der Verschmelzung ihrer Seelen keine Probleme gab.+

Era senkte den Kopf und dachte nach. Ihr wurde bewußt, wie einsam sie immer gewesen war, sah man von den Stunden, die sie mit Senar verbracht hatte, einmal ab. Obwohl sie dies nie zugegeben hätte, sehnte sie sich nach Geborgenheit und einer starken Hand,

die sie schützte und ihre Ängste zerstreute.

Im Grunde ihres Herzens war das Mädchen furchtsam und unsicher, was sie jedoch ihrer Umgebung durch ihr herausforderndes und trotziges Auftreten erfolgreich verheimlicht hatte.

Nun fühlte sie sich leer und ausgebrannt und wusste nicht, wie es weitergehen sollte.

Era lächelte müde und meinte: +Weißt du, dass du dir den besten Zeitpunkt ausgesucht hast, um mich dazu zu bewegen, mit der Verschmelzung einverstanden zu sein?+

+Den Zeitpunkt habe nicht ich ausgesucht, sondern eine Passager mit einer Waffe in der Hand+, meinte Denara trocken.

+Wer?+ fragte das Mädchen zurück.

+Eine Passager, so werden in den Alten Schriften jene genannt, welche die Heimsuchung bringen. Aber jetzt ist keine Zeit mehr für lange Erklärungen, Schäfchen, du musst dich entscheiden!+

+Was ist, wenn ich nicht will, machst du es dann mit Gewalt?+

+Nein, mit Gewalt ginge es nicht, dazu bist du zu stark. Wenn ich es trotzdem versuchen würde, wäre das unser beider Ende. Es bliebe mir nur die Möglichkeit, dich wieder zu verlassen.+

+Was wird dann mit dir?+ erkundigte sich das Mädchen neugierig.

+Ich weiß es nicht+, antwortete Denara, während das Mädchen dazu mit den Schultern zuckte.

+Wir müssen uns beeilen! Dein Körper beginnt schon auf meine Gedanken zu reagieren. Bald kann ich ihn nicht mehr verlassen!+ drängte Denara. Era fühlte, dass ihre Urgroßmutter unruhig wurde.

+Also gut, ich bin einverstanden. Aber ich habe eine Bedingung:  Du bringst uns anschließend schnell hier heraus und heilst Senar's Vater. Er liegt schwer verletzt bei den Trümmern seines Hauses.+

+Du hast mich anscheinend nicht richtig verstanden, Schäfchen!

Nach der Verschmelzung gibt es mich nicht mehr und dich genauso wenig.

Das neue Bewusstsein wird aus uns beiden gebildet. Es hat alle unsere Erinnerungen, Fähigkeiten und Eigenschaften. Du kannst mir keine Bedingungen stellen, die Erdena, das neue Geschöpf, erfüllen muss!+

+Ich verstehe..., also gut, bringen wir es hinter uns!+ meinte Era dann ein letztes Mal in der ihr eigenen burschikosen Art.

+Gut, dann leg' dich auf den Boden+, wies Denara's Bewusstsein sie an.

+Wird es weh tun?+

+Aber nein, Schäfchen, und wenn du mir hilfst, geht es ziemlich schnell.+

+Was muss ich tun, Urgroßmutter?+

+Du wirst es wissen, wenn es soweit ist. Lass uns jetzt anfangen, Schäfchen, entspanne dich.+

Langsam tastete Denara nach Era's Bewusstsein, das sich ihr weit öffnete.

+Gut machst du das, du bist ja ein Naturtalent!+ lobte das Bewusstsein der Alten.

Als sie in den Geist des Mädchens eindrang, fühlte sie, wie zerrissen und instabil Era's Psyche geworden war.

Das harte Leben ohne elterliche Liebe und Zuwendung und die Schikanen von Targat hatten dazu geführt, dass es nur noch eines geringen Anlasses bedurft hätte, das Mädchen um den Verstand zu bringen.

In stundenlanger Arbeit sortierte Denara die Gedächtnisinhalte aus Eras Bewusstsein und legte fest, welche für den Charakter von Erdena wichtig waren. Der Rest wurde zu weniger prägenden Erinnerungen.

Schließlich war das reine Bewusstsein des Mädchens, ihre Seele, "freigelegt".

Die selbe Prozedur dauerte bei Denara nur wenigen Sekunden, da sie diese Auswahl für sich schon lange getroffen hatte.

Jetzt war es soweit. Die beiden Seelen im Körper des jungen Mädchens, nun rein und unbelastet wie zum Zeitpunkt ihrer Entstehung durch die Vereinigung von Ei und Samenzelle, verschmolzen.

Das vereinigte Bewusstsein nahm die vorher selektierten persönlichkeitsbildenden Gedächtnisinhalte auf und vollzog innerhalb weniger Minuten das, was normalerweise vom Zeitpunkt der Befruchtung bis zum Erwachsenenalter dauerte: Eine stabile,  

ausgereifte Persönlichkeit bildete sich, Erdena war entstanden.

Die junge Frau schlug die Augen auf, erhob sich langsam und streifte mit den Händen das Stroh von ihrer zerrissenen, schmutzigen Kleidung. Ihr war, als sei sie aus einem langen, bösen Traum erwacht.

Sie fühlte eine mächtige, nie gekannte Ruhe und Gelassenheit in sich und ein befriedigtes Lächeln überzog ihr hübsches Gesicht.

"Ja, Era und Denara, meine Mütter, es hat geklappt", murmelte sie befriedigt und atmete tief durch.

Von den Strapazen der letzten Tage und den körperlichen Leiden, die ihr Targat zugefügt hatte, spürte sie nichts mehr, sie fühlte sich frisch und erholt.

"Jetzt werde ich erst einmal Sen helfen, nicht wahr Era?" meinte sie leisem Spott zu sich selbst und registrierte befriedigt, dass sie seine Gedanken noch spüren konnte, also lebte er noch.

In diesem Moment wurde mit einem schleifenden Geräusch der Riegel der Zellentüre zur Seite geschoben und Targat trat ein.

"Na, du kleines Luder, bist ja schon wieder auf den Beinen. Ich hätte nicht gedacht, dass es so schnell geht!" höhnte er.

"Gut dass du kommst, Beauftragter, das erspart es mir, dich zu holen. Und nun öffne die Gittertüre!" sagte Erdena eisig.

Mit diesen Worten schaffte sie es, Targat aus der Fassung zu bringen.

Er stand in der Türöffnung. Drei Fuß von ihm entfernt war der Raum nochmals durch ein Gitter abgeteilt, hinter dem das Mädchen stand und ihn auffordernd ansah.

"Was hast du gesagt? Ich höre wohl nicht richtig! Anscheinend bin ich noch viel zu sanft mit dir umgegangen, aber das werden wir gleich ändern!" drohte er hasserfüllt.

Erdena entgegnete nichts darauf, sie sah ihn nur abwartend an, mit einer Verachtung und Geringschätzung, die fast körperlich spürbar war.

Der Beauftragte zögerte und wurde unsicher. Er spürte, dass mit dem Mädchen eine Veränderung vorgegangen war.

"Verdammte Göre, ich werde Dir helfen...!" presste er zwischen den Zähnen hervor und formulierte einen Wunsch, der den widerspenstigen Zögling in ein wimmerndes Bündel aus Schmerzen verwandeln sollte.

Statt dessen durchzuckte grausame Pein jede Zelle seines Körpers. Der Schmerz schien nicht enden zu wollen. Keuchend rang Targat nach Luft, als die Schmerzwelle nach langen Minuten endlich verebbte.

Er begriff, dass das Mädchen den Wunsch reflektiert hatte, eine Gabe, die nur bei Informierten anzutreffen war.

Ehe er weiter darüber nachdenken konnte, verlor er den Boden unter den Füßen. Eine unwiderstehliche Gewalt zog ihn zum Gitter hin. Sein Körper wurde derb gegen die Stäbe gedrückt.

"Muss ich dich zu mir holen, ohne dass die Türe geöffnet wird?"  fragte das Mädchen ruhig.

Der Druck verstärkte sich. Von Targat's Stirn rann Blut, da sein Kopf, wie die übrigen Körperteile, immer fester gegen die Gitterstäbe gepresst wurde.

Mit einem dumpfen Knacken brach die erste Rippe. Der Beauftragte rang nach Luft, da der Druck, der ihn an die Stäbe presste, keinen Raum mehr zum atmen ließ.

Erdena stand gelassen da. Mehr noch als die Schmerzen, die er empfand, erschreckte Targat der Umstand, dass sich das Mädchen nicht einmal anzustrengen schien.

In diesem Moment wurde dem Beauftragten klar, dass sie ohne weiteres in der Lage war, ihre Drohung wahr zumachen. Sie würde ihn zwischen den Gitterstäben durchpressen, wie ein Stück Fleisch durch den Wolf.

Verzweifelt versuchte er um Gnade zu betteln, doch seine Lungen wurden so zusammengedrückt, dass er keinen Ton herausbekam.

+Hat es dir die Sprache verschlagen, Beauftragter?+ wisperte die Stimme des Mädchens in seinem Kopf.

+Bitte, lass mich am Leben!+ dachte er flehentlich.

+Du hast Glück, dass meine Mütter mir die Mordlust nicht als Charakterzug mitgegeben haben!+ gab das Mädchen zurück.

Im selben Moment wurde Targat vom Gitter weg gegen die Mauer geschleudert.

Mit einem lauten Knall flog gleichzeitig die Türe aus den Scharnieren und krachte haarscharf neben dem Beauftragten gegen die Wand, wo sie ihr Muster hinterließ.

"Es ist höchste Zeit, Sen zu helfen, also geh' voraus", wandte sich Erdena an das Häufchen Elend, das keuchend und Blut hustend am Boden lag.

Mühsam und ohne ein Wort zu sagen, erhob sich der Beauftragte und taumelte mehr, als dass er ging, ins Freie, wo eine halbe Landmeile entfernt Ker im Sterben lag.

 

*

 

Verblüfft hob Krala den Kopf, als sie Targat zusammen mit dem Mädchen kommen sah.

"Wie geht es Ker?" erkundigte sich Erdena ohne den erstaunten Blick der Heilerin zu beachten.

"Es geht zu Ende mit ihm, ich habe getan, was in meiner Macht stand."

"Das weiß ich!" bestätigte Erdena und Krala wunderte sich, warum die Worte des Mädchens sie freuten wie das Lob einer hoch stehenden Person.

"Das ist dein Werk, nicht wahr?" Wie ein Peitschenhieb kam die Frage des Mädchens an Targat, während sie anklagend auf Senar deutete, der teilnahmslos am Boden hockte und ins Leere starrte.

Der Beauftragte hob den Kopf und sah Erdena mit einer Mischung von Hass und Angst an.

"Es war nur zu seinem Besten, Era, er wäre sonst durchgedreht", versuchte er sich zu rechtfertigen.

"Nenne mich nicht Era. Für dich bin ich die Hohe Gesegnete!" fuhr ihn das Mädchen an. Targat zuckte ob dieser Zurechtweisung zusammen. In seiner Miene spiegelte sich der blanke Hass, aber er wagte es nicht, aufzubegehren.

"Du wirst dein Unrecht nun wieder gutmachen," erklärte Erdena mit einem gefährlichen Unterton in der Stimme. "Komm her!"

Der Beauftragte fühlte, wie die Angst in ihm hoch kroch. Die Dominanz der jungen Frau schüchterte ihn ein. Es wurde ihm klar, dass er nicht mehr die Era vor sich hatte, die er kannte.

Dieses Geschöpf umgab eine Aura von Macht, Weisheit und Stärke, wie er sie nicht einmal beim Zusammentreffen mit Informierten gespürt hatte.

Dennoch machte er keine Anstalten, der Anweisung zu folgen.

Die Augen des Mädchens wurden zu schmalen Schlitzen. Targat's Körper wurde mit einem Mal von einer unerklärlichen Starre befallen. 

Er war unfähig, auch nur den kleinen Finger zu rühren. Dann verlor er den Boden unter den Füßen und schwebte auf Ker zu. Wenige Zoll über dem Schwerverletzten kam Targat zur Ruhe.

Langsam begann die Haut des Beauftragten goldgelb zu schimmern, als wäre Honig aus seinen Poren getreten. Zähflüssig löste sich ein dünner Strom aus Lebensenergie von Targat's Körper und drang in den Schwerverletzten ein.

Von Minute zu Minute wurde die Gesichtsfarbe von Erdena's Widersacher fahler. Schließlich war er bleich wie der Tod.

Die Frau aus Fre`Losat erkannte, dass hier Gaben am Werk waren, wie sie nicht einmal die Informierten besaßen.

"Hohe Gesegnete, du solltest ihn nicht umbringen", wandte sich die Heilerin in unterwürfigen Ton an das Mädchen.

"Das habe ich auch nicht vor, Krala."

Erdena ließ mit einer kurzen Handbewegung den Strom aus Lebensenergie versiegen und setzte den Beauftragten einige Schritte entfernt im Gras ab.

Dessen Augen lagen nun tief in den Höhlen. Er atmete stoßweise und war weiß wie die Wand. Mit einem Wunsch heilte das Mädchen seine Rippenbrüche und die Wunde an seiner Stirn, die er sich am Zellengitter zugezogen hatte.

"Warum hilfst du mir?" brachte Targat mühsam hervor.

"Ich sagte bereits, dass meine Mütter mir die Mordlust nicht als Charakterzug mitgegeben haben. Allerdings werde ich nicht zulassen, dass jemand wie du noch länger Macht ausüben kann."

"Was hast du vor?" fragte der Beauftragte angstvoll.

"Ich werde dir deine Gaben nehmen, du hast nur Schindluder damit getrieben, damit ist es jetzt vorbei!" stellte das Mädchen fest. Für einige Sekunden wurde ihr Blick abwesend, als sie, ohne dass Targat etwas davon spürte, bestimmte Sektoren in seinem Gehirn für immer blockierte.

"Erledigt", meinte sie dann trocken, drehte sich um und ging zu Senar.

Erdenas Gesichtzüge wurden weich, als sie sich zu ihm herunterbeugte und sanft ihre rechte Hand auf seine Stirn legte. Im selben Moment erwachte der Junge aus seiner Starre und schaute das Mädchen verwirrt an.

"Was ist los, Era?" fragte er verwirrt. Dann kehrten seine Erinnerungen zurück. Mit einem Aufschrei rannte er zu seinem Vater, der im Gras lag und tief und gleichmäßig atmete.

"Er schläft jetzt. Du brauchst dich nicht mehr um ihn zu sorgen, er wird bald wieder völlig gesund sein", meinte Erdena beruhigend.

"Und wir müssen uns jetzt um die anderen kümmern, die unserer Hilfe bedürfen, Heilerin", wandte sie sich dann an Krala, die sie voller Scheu anblickte.

"Natürlich, Hohe Gesegnete", entgegnete die Frau und verneigte sich leicht vor dem Mädchen.

Im selben Moment wurde das Gesicht des Mädchens zu einer starren Maske. Ihr Kopf ruckte nach oben, als suche sie etwas am Himmel.

"Verdammt!" entfuhr es ihr.

+Lauft alle weg! Flieht, solange ihr noch könnt, sonst droht euch der Tod!+ sandte sie dann ihre Gedanken in einer Stärke aus, dass jeder im zerstörten Dorf die Warnung wahrnehmen konnte, als wäre sie laut gesprochen.

Doch Erdena wusste, dass es schon zu spät war. Drei silbern glitzernde Gebilde in der Form von dreieckigen Scheiben flogen am Himmel pfeilschnell auf Da`Landre zu.

Augenblicke später stoben hunderte von grellen Funken mit infernalischem Geheul von den Scheiben weg und trafen die Trümmer des Dorfes und seine Bewohner.

Dutzende von `hala wurden in Sekunden zu Asche verbrannt. Überall war Rauch, Hitze und Feuer.

Mit zwei, drei schnellen Schritten lief Erdena zu dem Jungen, warf sich mit ihm zu Boden und hielt ihn fest umklammert.

Beinahe schlagartig zerflossen die beiden zu einer dunklen, nebelartigen Wolke, die sich rasch ausdehnte und verschwand.

Fast zur gleichen Zeit tauchte drei Landmeilen entfernt jene Wolke aus dem Nichts wieder auf. Rasend schnell verdichtete sie sich zu zwei am Boden liegenden Körpern, von denen einer den anderen umklammert hielt.

Nach wenigen Sekunden löste sich Erdena von ihrem Gefährten und erhob sich.

Senar schüttelte ein paar Mal heftig den Kopf, um seine Benommenheit zu vertreiben, dann stand auch er auf. Verwirrt sah sich der Junge um.

Er befand sich mit dem Mädchen auf einer Anhöhe, von der man auf Da`Landre, oder das was davon noch übrig war, hinuntersehen konnte.

"Wie hast du das gemacht, Era?" erkundigte sich der Sohn des Schmiedes fassungslos.

In diesem Moment überflog die zweite Staffel der dreieckigen Gebilde das Dorf und vollendete das Vernichtungswerk.

Mit einem Aufschrei lief Senar den Hang hinunter. Nach wenigen Schritten stolperte er und fiel der Länge nach hin. Im Nu war das Mädchen über ihm und hielt ihn fest. "Bist du Lebensmüde?" fuhr sie ihren Gefährten zornig an.

Nach kurzer Gegenwehr gab Senar seinen Widerstand auf und fing an zu schluchzen. "Das werden sie mir büßen, wer immer sie auch sind!" stammelte er mit tränen erstickter Stimme. Der Junge wusste, dass sein Vater tot war, weil dort unten niemand mehr am Leben sein konnte. Verzweiflung und wilde Entschlossenheit spiegelten sich in seinem Gesicht.

Tröstend schmiegte sich die junge Frau an ihren Freund. Dabei fiel ihr auf, wie stark und muskulös Senar in letzter Zeit geworden war. Er bekommt die Statur seines Vaters, dachte sie bei sich. Für einige Augenblicke genoss Erdena seine Nähe, dann löste sie die Umarmung und erhob sich.

"Wir müssen hier schleunigst weg. Es kann sein, dass die Passager die Gegend absuchen. Wenn sie uns finden, werden wir ebenfalls sterben!"

Senar sprang auf.

"Ja, wir werden gehen. Aber ich schwöre beim Andenken an Ker, den Schmied, dass ich zurückkommen und jene, die für dieses Gemetzel verantwortlich sind, zur Rechenschaft ziehen werde", stieß der Jüngling hasserfüllt hervor.

"Irgendwann werden sie es mit den Aschereide zu tun bekommen. Dann werden die Heimsucher den Tag verfluchen, an dem sie ihren Fuß auf unsere Welt setzten", murmelte das Mädchen düster.

"Wer sind die Aschereide?" erkundigte sich Senar verwirrt.

"Das ist jetzt nicht wichtig", antwortete das Mädchen in einem Ton, der keinen Zweifel daran ließ, dass für sie dieses Thema erledigt war. "Wir machen uns sofort auf den Weg nach Grat`Hala. Die Informierten müssen erfahren, was hier vorgefallen ist. Außerdem werde ich dort endlich die Alten Schriften vollständig studieren. Wenn es für Grenn Rettung gibt, dann erfahren wir es aus diesen Aufzeichnungen."

Senar warf Erdena einen verwunderten Blick zu, sagte aber nichts.

"Worauf wartest du noch?" fragte sie ihn und ging los. Der Jüngling warf noch einen letzten Blick auf das zerstörte Dorf und beeilte sich dann, seiner Gefährtin zu folgen.

 

*

 

Ein gequältes Stöhnen entrang sich Keliaths Brust. Helle Punkte tanzten vor seinen Augen, als es ihm nach mehreren vergeblichen Versuchen gelang, sie zu öffnen. Er fühlte sich wie gerädert, jede Faser seines Körpers schmerzte.

"Ist nicht angenehm, zweimal innerhalb kurzer Zeit vom Schrein an einen anderen Ort gebracht zu werden, nicht wahr?" erkundigte sich Termalnjong mitfühlend.

Prüfend schaute der Informierte den Diener an und überlegte, ob dieser ihn verspotten wollte. Der kleine Mann streckte seine Hand aus, um ihm aufzuhelfen.

"Ihr seht überhaupt nicht angegriffen aus, Termalnjong, hat Euch der Transport denn nichts ausgemacht?"

"Nun, sagen wir, man gewöhnt sich daran. Der eine verträgt es

besser und der andere weniger gut", antwortete der Diener des Schreins und fuhr mit einem Seitenblick auf Mares, der immer noch regungslos auf dem Boden lag, fort: "Und manche vertragen es ganz schlecht."

"Könnt Ihr etwas für ihn tun, Diener?"

"Das ist nicht nötig, er wird sich auch so wieder erholen."

Als wäre dies sein Stichwort gewesen, begann Mares sich zu regen.          

"Was hat der Gnom eben gesagt?" stöhnte er.

Keliath zuckte zusammen. Hatte der jüngere der beiden Informierten den Diener vorher schon respektlos behandelt, wurde er nun beleidigend.

"Ich glaube nicht, dass es nötig ist, der Person, die dem Immerwährenden Beschützer am nächsten steht, den gebührenden Respekt in einer Weise zu verweigern, wie Ihr das tut, Erhabener Mares!" wies Keliath ihn scharf zurecht.

"Du kannst mich ruhig wieder duzen!" spottete der Angesprochene und dokumentierte damit, dass in die Rüge kalt gelassen hatte.

"Laßt Ihn reden, Keliath. Er kann mich nicht beleidigen", versuchte Termalnjong den beginnenden Streit zu schlichten.

"Wenn ich mich recht erinnere, war eine der letzten Aussagen des Schreines, dass Ihr im Besitz eines der Aschereide seid. Ich will das verdammte Ding jetzt sehen und wissen, was es damit auf sich hat. Außerdem würde mich interessieren, warum Ihr, wenn dieses Ding solche Macht verleiht, wie es in den Alten Schriften heißt,

nicht schon früher eingegriffen habt!" fuhr Mares den Diener an.

"Erhabener, ich handle auf Anweisung des Schreines. Er sagte mir nicht, dass ich einen Ein-Mann-Krieg gegen die Passager führen soll.

Was den Aschereide betrifft, der mir zur Verfügung steht, würdet Ihr nicht begreifen, was er kann und was er ist, außerdem wärt Ihr nicht fähig, ihn zu benutzen. Daher braucht Ihr Euch über ihn keine Gedanken zu machen. Denkt lieber darüber nach, wie wir Denara finden oder was wir tun, wenn sie nicht mehr am Leben ist", erklärte Termalnjong ruhig.

Mares biss die Zähne zusammen, dass die Kiefermuskulatur scharf hervortrat. Noch nie war er so gedemütigt worden wie in diesem Moment.

Während ihm Miller damals seine Grenzen aufzeigte, war der Diener noch einen Schritt weitergegangen: Er hatte ihn getadelt wie einen dummen Jungen, was Mares noch schlimmer traf.

"Du wagst es, mich zu maßregeln, du Gnom?" schrie der Informierte außer sich und ging auf Termalnjong los.

Der Weißhaarige schob Mares mit einer beiläufigen Handbewegung zur Seite, so dass dieser einige Schritte rückwärts stolperte und Mühe hatte, nicht zu straucheln.

"Nun ist es genug. Was glaubt Ihr eigentlich wer Ihr seid? Ihr messt Euren Gaben zuviel Bedeutung bei! Sie sind nichts, im Vergleich zur Macht, die den TRÄGERN die Aschereide verleihen. Bangt und hofft, dass ich Euch das nie beweisen muss! Kommt wieder zu Sinnen, Mares!"

Der Ton des Weißhaarigen war ruhig gewesen, in keiner Weise wütend, eher eindringlich.

Der Informierte starrte den Diener lange an und senkte dann den Kopf.

"Entschuldigt, Termalnjong, ich habe mich vergessen. Mein Zorn auf den Immerwährenden Beschützer war groß, weil er mir meinen Status aberkannte. Ich habe Euch wohl dazu benutzt, meine Wut abzulassen."

"Es ist gut, dass Du wieder vernünftig wirst, Mares. Wir haben jetzt wichtigeres zu tun, als uns gegenseitig anzufeinden", meinte Keliath versöhnlich und fuhr dann fort:

"Was schlagt Ihr vor, Diener?"

"Als erstes", erwiderte Termalnjong mit feinen Lächeln, "schlage ich vor, dass wir die Förmlichkeiten begraben. Ihr könnt mich Term nennen, so bin ich vor langer Zeit von jenen genannt worden, die mir nahe standen. Dann wird es wohl zweckmäßig sein, dass wir an Deck gehen und den Kapitän anweisen, so schnell wie möglich Kurs auf Fa`Senn zu nehmen."

"Ach ja, der Kapitän!", erwiderte Keliath lachend. "Der hat mit Sicherheit nicht mitbekommen, dass wir von Bord waren. Er wird Augen machen, wenn er Euch, äh... dich, sieht, Term."

Gemeinsam begaben sich die beiden Informierten und der Diener des Schreines an Deck, wo Gastha, der neue Kapitän der Sadre gerade fluchend auf und ab ging.

Gastha war ein ebenso guter Seemann, wie es Tennar gewesen war. Seine Ehrerbietung gegenüber den Erhabenen war jedoch nicht so ausgeprägt wie die seines Vorgängers, was bisher verhindert hatte, dass er Kapitän auf dem Schiff eines Informierten wurde.

"Was bilden sich die beiden da unten in ihrer Kajüte eigentlich ein?" wetterte er gerade.

"Seit drei Tagen liegen wir schon an der Bannzone vor Anker und die Kerle lassen sich nicht blicken. Da kommt man sich ja vor wie ein Idiot, wenn man stundenlang gegen die Türe hämmert und die rühren sich nicht! Was glauben die eigentlich was sie sind? Götter?"

Gastha schnaubte wütend und holte Luft für die Fortsetzung seiner Schimpftirade.

Einige aus der Mannschaft, die bemerkt hatten, dass die Mächtigen an Deck gekommen waren, bemühten sich vergeblich, ihren Kapitän mit Gesten und Grimassen darauf aufmerksam zu machen.

"Guten Tag Kapitän, hattet Ihr Ärger?" machte sich Keliath mit leiser Stimme bemerkbar.

Gastha drehte sich um. Wer geglaubt hatte, dass er jetzt in Verlegenheit geraten war, der irrte.

"Oh, Erhabener, wie schön, dass Ihr uns mit Eurer Anwesenheit beglückt. Kaum hämmert man drei Tage lang mindestens einmal jede Stunde gegen die verschlossene Türe Eurer bescheidenen Unterkunft, schon kommt Ihr flugs herauf und fragt nach, was los ist", keifte er Keliath an.

Dieser lief dunkelrot an und Mares brauchte sich nicht länger zu fragen, warum dieser fähige Seefahrer solange bei den Beförderungen zum Kapitän eines Schiffes übergangen worden war.

"Erstens sind wir nicht an Deck gekommen, um nachzufragen was los ist, zweitens waren wir nicht in unserer Kabine, sondern an einem Ort, wo Ihr wohl nie hinkommen werdet, Käp'ten, und drittens habt Ihr die längste Zeit ein Schiff befehligt, wenn ich von Euch noch eine einzige Unverschämtheit höre", erwiderte Keliath mühsam um Beherrschung ringend.

Die Seefahrt hatte in Grenn eine besonders hohe Bedeutung. Sie unterstand der direkten Kontrolle der Mächtigen.

Ohne deren Zustimmung wurde kein Schiff gebaut und jede Fahrt außer dem Fischfang bedurfte der Genehmigung eines Informierten. Auch die Schiffskommandanten wurden von ihnen eingesetzt.

Gastha war dies wohl bewusst und so schluckte er eine Erwiderung, die Keliath sicher nicht gefallen hätte hinunter, gab sich einen Ruck und meinte:

"Es soll nicht wieder vorkommen, Erhabener, vergebt mir meine Respektlosigkeit."

"Wir müssen so schnell wie möglich nach Fa`Senn zurück. Sorgt dafür!" versetzte Keliath barsch, drehte sich um und wollte gehen.

Jetzt bemerkte der Kapitän Termalnjong.

"Bei allem Respekt, Erhabener,  i c h  führe dieses Schiff, solange Ihr mich nicht absetzt. Deshalb möchte ich wissen, wer dieser Mann in Eurer Begleitung ist und wie er an Bord kam. Außerdem stünde es Euch gut an, mir zu sagen, warum wir den weiten Weg nach Setha gesegelt sind, wenn Ihr nicht an Land geht, um den Immerwährenden Beschützer aufzusuchen."

Mares beobachtete amüsiert, wie Keliaths Gesichtsfarbe von rot auf weiß wechselte.

Der ältere der beiden noch lebenden Mächtigen hatte gute Seiten und einige weniger gute. Zu letzteren gehörte, dass er großen Wert auf Respekt legte und keine Widerrede oder gar Kritik vertrug.

Gastha hatte eben die Grenze dessen überschritten, was Keliath zu tolerieren bereit war.

Der Informierte setzte zu einer scharfen Zurechtweisung an, die wohl in einer Kommandoenthebung gegipfelt hätte, da legte ihm von hinten Termalnjong die Hand auf die Schulter und meinte leise:

"Er ist ein fähiger Kapitän, Keliath, vergiss das nicht. In diesen Zeiten brauchen wir jeden guten Mann. Außerdem bin auch ich der Meinung, dass Gastha ein Recht darauf hat, zu erfahren, wie ich auf sein Schiff gekommen bin und warum ihr euch solange nicht gemeldet habt."

Der Mächtige zögerte einige Sekunden, dann gab er ebenso leise zurück:

"Gut, Term, dann erkläre du es ihm, denn ich gehe jetzt in meine Kabine und beiße in ein Stück Blockholz, bevor ich mich vergesse und ihn in der Luft zerreiße."

Dazu kam es jedoch nicht, denn am Himmel waren plötzlich drei pfeilförmige Gebilde zu sehen, die sich mit hoher Geschwindigkeit auf Setha zu bewegten.

Kurz bevor sie die Insel überflogen, schleuderten sie mehrere grelle Lichtkugeln von sich, die einen gewaltigen Feuersturm entfachten.

Wenige Sekunden später wurde die Sadre von einer Druckwelle erfasst.

Mit lautem Krachen barst der Hauptmast und die eben gehissten Segel wurden von den verdrängten Luftmassen zerfetzt.

Obwohl das Schiff drei Seemeilen von Setha entfernt vor Anker lag, versengte die Gluthitze des Feuersturms den Männern die Gesichter.

Mit infernalischem Heulen rasten die Flugkörper über die Sadre hinweg, flogen eine weite Schleife und nahmen erneut Kurs auf die Insel.

"Das sind SIE, sie wollen den Schrein zerstören!" rief Termalnjong über den Lärm hinweg.

"Und uns werden sie auch nicht verschonen", prophezeite Keliath mit steinernem Gesicht, während rings um ihn die Besatzungsmitglieder vor Panik schreiend durcheinander rannten.

Mares lief der Schweiß in Bächen übers Gesicht. Er bemühte sich vergebens, den Flugkörpern Schaden zuzufügen.

"Da irrst du dich, Keliath,  w i r  werden SIE nicht verschonen!" entgegnete der Diener gelassen und streckte die rechte Hand aus, so als würde er etwas in Empfang nehmen.

Übergangslos schwebte über seinen Fingerspitzen ein winziger Punkt, der rasch zu einer pechschwarzen Kugel, die alles Licht zu schlucken schien, anschwoll.

+Bist du stark genug?+ wisperte die Stimme des PARTNERS in Termalnjongs Bewusstsein.

+Stark genug für dich!+ gab der Gnom gemäß dem festgesetzten Ritus zurück.

Als Antwort schwebte die auf Faustgröße angewachsene Kugel in Term's ausgestreckte Hand. Der Diener umfasste sie und wurde innerhalb eines Augenblicks zu einem dunklen, dreidimensionalen Schatten. 

Im selben Moment waren die Flugkörper heran und schleuderten mehrere Lichtkugeln auf die Sadre.

Fassungslos sahen die beiden Informierten, wie die Energien von dem lichtlosen Etwas mit menschlichen Umrissen angezogen wurden und darin verschwanden, als hätte es sie nie gegeben.

Dann drehte sich der Schatten um und streckte beide Hände nach den pfeilförmigen Gebilden aus, die das Schiff eben überflogen

hatten.

Übergangslos wurde die schwarze Silhouette, die eben noch Termalnjong gewesen war, zu einem gleißendhellen Schemen mit menschlichen Umrissen.

Aus den ausgestreckten Händen ergoss sich röhrend ein Energiestrom, der in Nullzeit die abdrehenden Angreifer einholte.

Für einige Sekunden stand eine zweite Sonne am Himmel, die mit ihrer Leuchtkraft Senh bei weitem übertraf.

Mit einem gewaltigen Donnerschlag fegte erneut eine Druckwelle über die Sadre. Langsam dehnte sich der Glutball aus und verlor an Helligkeit.

Das Gebilde mit menschlichen Umrissen war nun wieder schwarz wie die Nacht und stand wie ein Bote der Finsternis auf dem Deck der Sadre.

Keliath wurde vor Grauen geschüttelt. In dieser dunklen Gestalt schien alle Macht der Dämonen vereinigt zu sein.

Jetzt streckte der Schatten wieder den rechten Arm aus und öffnete die Hand.

Vom Kopf ab beginnend wich die Lichtlosigkeit aus Termalnjong's Körper. Nach und nach kam die wahre Gestalt des Dieners wieder zum Vorschein. Schließlich war nur noch sein ausgestreckter Arm schattengleich.

Aber auch aus diesem zog sich die Finsternis nun zurück und verdichtete sich zu einer faustgroßen Kugel, die langsam aus der geöffneten Hand des Gnomes schwebte. Allmählich schrumpfte das seltsame Gebilde, bis es nur noch stecknadelkopfgroß war und verschwand.

"Was bei den ausflusskranken Wandermetzen von Ma`Desch war das?" fluchte Mares und starrte Termalnjong an, als hätte er ein Ungeheuer vor sich.

"Kannst du dir das nicht denken?" fragte der Diener zurück.

Als er in das verständnislose Gesicht des Informierten blickte, beantwortete er sich die Frage selbst und stellte fest: "Nein, offenbar nicht."

"Um ehrlich zu sein," meldete sich Keliath zu Wort, "ich verstehe auch nicht, was da vor sich ging."

"Warum nennt ihr euch dann Informierte?" frotzelte Termalnjong, doch seine tief in den Höhlen liegenden Augen verdeutlichten, dass es ihm nicht so gut ging, wie er mit seiner lockeren Rede glauben machen wollte.

"Nun gut, wir treffen uns in einer halben Stunde in meiner Kabine, dann werde ich euch Rede und Antwort stehen", meinte er noch zu seinen beiden Begleitern und begab sich dann mit schleppenden Gang unter Deck.

"Er bestimmt jetzt, was geschieht. Unsere Zeit ist endgültig abgelaufen", stellte Mares ohne Bedauern fest.

"Nun, ganz so ist es auch nicht, immerhin nimmt der Kapitän noch Befehle von mir an", stellte Keliath voll Selbstironie fest und wandte sich an Gastha, der ebenfalls Zeuge von Termalnjong's Verwandlung gewesen war.

"Kapitän, sorgt dafür, dass alle Schäden umgehend repariert werden und wir so schnell wie möglich Kurs auf Fa`Senn nehmen können. Solltet Ihr irgendwelche Fragen haben, wendet Euch an den Diener des Immerwährenden Beschützers, er wird sie beantworten."

Gastha war jedoch das Interesse an weitergehenden Informationen über seine drei Passagiere vergangen. Mit gewohnter Präzision gab er der Mannschaft die nötigen Anweisungen und schon nach wenigen Tagen war die Sadre auf dem Weg nach Fa`Senn.

 

*

 

Weit von hier, auf der Insel Rhetana, warten eure Verbündeten an einem Ort, der ihnen Heimat und Gefängnis zugleich ist.

Sie hoffen auf den Tag, an dem die TRÄGER ihre Wahl treffen und sich rüsten mit den Geschöpfen, deren Passion Vernichtung und Tod ist.

Die Heimsucher werden sich in Sicherheit wähnen, werden glauben, unangreifbar zu sein in ihren fliegenden Wägen und hinter den dicken Mauern ihrer STADT.

Dabei harrt der schwarze Tod lechzend vor Gier nach Blut und Zerstörung auf die Stunde seiner Freiheit. Aschereide heißt der Alptraum der Passager, und sie werden nirgends vor ihm sicher sein...

(Aus den Alten Schriften, Große Bibliothek Grat`Hala)

 

*

 

"Wie läuft es, Miller?"

"Nicht schlecht, Erster. Wir haben die Umgebung der STADT von Einheimischen gesäubert und einen Schutzstreifen angelegt. Beim Übergang hat es nach den bisherigen Informationen keine größeren Probleme gegeben.

Einige Bürger haben zwar wie erwartet durch den Wechsel einen psychischen Schaden davongetragen, aber es sind weniger als die vom Amt für Wissenschaft prognostizierten 0,3 Prozent."

"M-hm, das hört sich nicht schlecht an. Und was macht der Schrein, Miller?"

Der Angesprochene verzog das Gesicht.

"Wir haben die Insel mit drei Jägern dem Erdboden gleichgemacht, aber der Schrein hat sich vorher abgesetzt. Es dürfte wohl einige Zeit dauern, bis wir ihn wieder aufgespürt haben."

"Nun, es war zu erwarten, dass wir ihn mit solchen Methoden nicht erwischen. Aber da sie und Jankee Ihren Auftrag verpatzten, blieb keine andere Möglichkeit, als es auf diese Weise zu versuchen. Übrigens, was ist mit den beiden Informierten, leben sie noch?"

"Darauf wollte ich eben kommen, Erster. Ich glaube, wir haben da ein Problem..."

"Was heißt das?"

"Der Verbandsführer der Jäger teilte vor etwa 45 Minuten mit, dass in der Nähe der Insel ein Schiff kreuzt. Ich habe die Anweisung gegeben, es zu vernichten, da ich vermute, dass sich die Informierten an Bord befinden."

"Und wo ist das Problem?"

"Wir haben seit einer halben Stunde keine Funkverbindung mehr zu den Jägern. Ich habe eben einen Aufklärer losgeschickt, um festzustellen was los ist."

"Gut, Miller, halten sie mich auf dem Laufenden. Ich möchte in etwa einer Woche mit Phase II beginnen."

"Das meine ich auch, wir dürfen den Einheimischen keine Zeit lassen, den Widerstand zu konsolidieren."

"Ich bedanke mich für den Hinweis, Zweiter, ohne sie wäre ich nicht darauf gekommen", versetzte der Erste spöttisch.

Der Angesprochene verzog keine Miene, nickte nur leicht und sagte:

"Ich nehme die Rüge zu Kenntnis, Bonner". Dann verließ er den Raum.

Der Erste drehte sich um und ärgerte sich einige Sekunden darüber, dass ihn sein Stellvertreter mit dem Namen angeredet hatte, obwohl ihm dies nicht zustand.

Müde ging der Oberbefehlshaber der Passager dieser Welt zum Fenster. Er bemühte sich, die herrliche Aussicht auf die STADT, die sich ihm von seinem Büro bot, zu genießen.

Allmählich wich seine Anspannung. Es kostete große Nervenstärke, einen Mann wie Miller, der auf Ebene ZWEI geboren war, zurechtzuweisen.

Das Durchsetzungsvermögen und den starken Willen der Passager von ZWEI konnte man fast greifen, wenn man ihnen gegenüberstand. Sie vermittelten einem stets das Gefühl, minderwertig zu sein.

Der Erste, der selbst von der Hauptebene stammte, sah sich wieder einmal in seiner Überzeugung bestärkt, dass es gut war, dass zwischen den verschiedenen Ebenen kein kontinuierlicher Materieaustausch in größerem Umfang stattfinden konnte.

Eine umfassende Manipulation der Struktur, wie sie zum Übergang großer Gegenstände oder einer Vielzahl von Personen nötig war, durfte nur einmal in dreißig Jahren vorgenommen werden, wollte man keine Katastrophe riskieren.

Er war überzeugt davon, dass ZWEI längst die Herrschaft über alle besiedelten Ebenen beansprucht hätte, wäre dies möglich gewesen. Außerdem war der Erste sicher, dass Miller hier ein hartes Regiment führen würde, wenn er einmal das Sagen hatte.

Resignierend zuckte der hagere Mann mit den Schultern. Miller war unentbehrlich für das Projekt. Der Erste konnte seinen Vertreter zwar nicht leiden, musste ihm aber geniale strategische Fähigkeiten und hohe Intelligenz zugestehen.

Bonner betrachtete prüfend sein Gesicht im Spiegel oberhalb des kleinen Waschbeckens in seinem Büro.

"Du siehst schlecht aus, alter Freund", meinte er zu seinem Spiegelbild.

Die Besiedelung von Ebene NEUN war bereits die zweite Expansion, die der Erste leitete. Es kam damals einer Sensation gleich, so kurz hintereinander den finanziellen und logistischen Kraftakt zu vollbringen, eine ganze Stadt für die Eroberung einer fremden Welt vorzubereiten. Früher war dies nur alle paar hundert jahre möglich gewesen.

Die erste Expansion unter der Leitung Bonners fand vor dreißig Jahren auf Ebene SECHZEHN statt. Damals wie heute hatte Bonner die Angleichung problemlos überstanden und dabei Glück gehabt, dass er nicht zu jenen zu gehörte, die beim Übergang den Verstand verloren.

Die Besiedelung von Ebene NEUN war sein letztes Kommando. Bereits jetzt hatte er sein Soll für das Projekt erfüllt. Ein, zwei Jahre noch, dann würde er sich zur Ruhe setzen.

Miller würde dann in den Rang eines Ersten aufsteigen und seine Sache sicherlich gut machen, da ihm nie ein Fehler unterlief.

Bonner glaubte nicht daran, dass sein Stellvertreter den Auftrag, von Mares etwas über den Schrein zu erfahren und den Informierten dann zu töten, aus Unvermögen verpatzt hatte.

Miller hatte eigene Pläne, dessen war sich der Erste sicher, womöglich liebäugelte der Mann von Ebene ZWEI sogar mit dem Gedanken, sich die Machtmittel dieses rätselhaften Dinges nutzbar zu machen.

Beim Gedanken an den Schrein runzelte Bonner die Stirn. Dieser Immerwährende Beschützer, wie die `hala ihn nannten, war eines der letzten ungelösten Geheimnisse.

Auf drei der Ebenen, welche die Passager bisher erreicht hatten, war so eine rätselhafte Einrichtung gewesen und hatte sich gegen die Expansion gewandt.

Mit Schaudern dachte der Erste an die Aufzeichnungen über die vor 1000 Jahren erfolgte Expansion auf Ebene VIER, wo ein Schrein die dortige STADT mit ihren Bewohnern fast völlig ausgelöscht hatte.

Es war das erste Mal seit Beginn des Expansionsprojekts vor fast 1700 Jahren gewesen, dass man auf ernsthaften Widerstand gestoßen war.

Ein weiteres Zusammentreffen mit einem Schrein auf Ebene SIEBEN folgte, bei dem sich die Passager nur behaupten konnten, weil sie ihre Städte nun bis an die Zähne bewaffnet durch den Übergang schickten.

Nach dem Fiasko auf VIER war man dazu übergegangen, zunächst Saboteure auf jene Ebene zu schicken, die man als nächstes besiedeln wollte, wenn die Sonden anzeigten, dass dort ein Schrein existierte.

Miller hatte sich freiwillig gemeldet, als sich herausstellte, dass es auch auf Ebene NEUN einen Schrein gab.

Bonner war dies damals schon verdächtig erschienen, denn die Aufgabe eines Saboteurs war mit einem hohen Risiko behaftet.

Der Übergang einer geringen Materiemenge konnte zwar beliebig oft erfolgen, ohne dass die Struktur darunter litt, aber die Häufigkeit einer Schädigung des Transportgutes lag um den Faktor zwanzig höher.

Außerdem waren schon mehrere Saboteure kurz nach ihrer Ankunft im Einsatzgebiet unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen. Man vermutete, dass der "Immerwährende Beschützer" den Übergang angemessen und entsprechend reagiert hatte.

Wenn Miller in Kenntnis dieser Risiken als Führungskraft eine Aufgabe wahrnahm, die normalerweise den unteren Chargen zugewiesen wurde, musste das gute Gründe haben.

"Ich werde dir gut auf die Finger sehen, verlass dich drauf! Und wenn ich es irgendwie verhindern kann, wirst du nach meinem Abgang nicht Erster", murmelte Bonner.

Stolz betrachtete er durch das Panoramafenster seines Arbeitsraumes die STADT. Er blickte auf ein Meer von Wolkenkratzern, zwischen denen sich in luftiger Höhe zahlreich wie Insekten Schweber bewegten, welche die Bewohner an ihr jeweiliges Ziel brachten.

Der Horizont wurde glutrot von der untergehenden Sonne ausgefüllt. Hier auf Ebene NEUN war sie ein ausgebrannter Riese, der nur noch für wenige Millionen Jahre Licht und Wärme spenden würde.

Die ersten Sterne funkelten am dunkelblauen Himmel.

Bonner betrachtete sie und fragte sich nachdenklich, wo wohl die Erbauer des Schreins lebten, der offensichtlich die Expansion der Passager verhindern sollte.

Miller würde an sein Ziel gelangen, dessen war sich der Erste sicher. Er würde das Geheimnis lösen und auf irgendeine Weise seinen Nutzen daraus ziehen.

"Erster!" Bonner drehte sich um und sah seinen Stellvertreter in der Türe stehen.

"Ich habe angeklopft, aber sie waren wohl zu sehr in Gedanken um es zu hören", meinte Miller spöttisch, als er Bonner's verärgerten Gesichtsausdruck sah.

"Was gibt es?" fragte der Erste kurz angebunden.

"Der Aufklärer ist soeben zurückgekehrt. Es ist dem Piloten gelungen, eine Rekonstruktion anzufertigen."

"Und?"

"Die drei Jäger wurden von einer bisher unbekannten Waffe vernichtet und zwar innerhalb weniger Sekunden."

"Eine neue Waffe des Schreines?"

"Es sieht nicht so aus! Der Angriff erfolgte nicht von der Insel, sondern von dem Schiff, auf dem ich die Informierten vermute. Der Schrein hatte sich vorher schon abgesetzt."

"Die Rekonstruktion lässt keinen Zweifel zu, Miller?"

"Sehen Sie selbst, Erster", entgegnete der Angesprochene und legte eine kleine, silbern schimmernde Scheibe in das Abspielgerät, worauf ein Hologramm von zwei Metern Durchmesser die Vernichtung der Jäger zeigte, als wäre sie gefilmt worden.

Die Rekonstruktion war ein Abfallprodukt jener Technik, die es ermöglichte, die Struktur abzutasten und zu manipulieren.

Jedes Ereignis prägte sich in die Struktur ein und verblasste dann allmählich wieder. Bei Vorgängen, die nicht länger als einen Tag zurücklagen, konnte man mit der Rekonstruktion Bilder gewinnen, die an Klarheit und Schärfe nichts zu wünschen übrig ließen.

Der Erste nickte, nachdem er die Aufnahme gesehen hatte.

"Eine Rekonstruktion der Vorgänge auf dem Schiff war nicht möglich," erklärte Miller besorgt, "weil irgendetwas die Struktur in der näheren Umgebung des Schiffes so verzerrt hat, dass keine vernünftige Abtastung möglich war."

"Ich habe ihnen weitgehend freie Hand bei militärischen Aktionen gegeben", meinte Bonner. "Was werden Sie jetzt tun?"

"Ich habe nicht vor, das Schiff zum jetzigen Zeitpunkt noch mal anzugreifen. Die Jäger verfügten über Absorber und waren sehr schnell, trotzdem hat irgendetwas auf dem Schiff sie runtergeholt wie Fliegen mit einer Klatsche.

Wir müssen herausfinden, wer an Bord ist, wohin sie wollen und vor allen Dingen, was das für eine Waffe war, die es aufgrund der niedrigen Entwicklungsstufe eigentlich hier nicht geben dürfte."

"Finden Sie's heraus, Zweiter, und wenn Sie es wissen, möchte ich sofort informiert werden."

Der Kahlköpfige nickte und wollte gehen.

"Miller!"

Der Angesprochene drehte sich nochmals um.

"Keine Fehler oder Eigenmächtigkeiten, haben Sie verstanden?"

"Natürlich, Bonner!" entgegnete Miller mit eisigem Lächeln und verließ den Raum.

"Ich habe das Gefühl, dass ich hier noch viel Ärger haben werde", murmelte der Erste und stellte Verbindung zum Dritten her.

"Was gibt es?" fragte Trenner, der Befehlshaber der Bodentruppen in seiner trockenen Art.

Bonner lächelte ein wenig. Er mochte Trenner, vielleicht weil dieser wie er von der Hauptebene stammte.

"Wir beginnen mit Phase II. Sie haben das Kommando über den Einsatz, weil der Zweite wichtigere Aufgaben hat."

"Was ist wichtiger als Phase II ?" wunderte sich Trenner und ergänzte dann: "Wir fangen sofort an."

"Das will ich auch hoffen", schmunzelte Bonner und unterbrach die Verbindung. Dann lehnte er sich in seinem Sessel zurück und malte sich die Schwierigkeiten aus, die noch auf ihn zukommen würden auf dieser Drecksebene, wie er sie im Stillen bezeichnete.

 

*

 

Seit der Zerstörung von Da`Landre waren sechs Wochen vergangen. Senar und Erdena hatten ein Viertel der Strecke nach Grat`Hala zurückgelegt.

Die beiden waren nur langsam vorangekommen. Meist waren sie zu Fuß abseits der Wege gegangen, weil auf allen größeren Straßen immer wieder Fahrzeuge der Passager auftauchten. Diese Wägen wurden nicht von Jahaks gezogen, sondern fuhren von selbst, was bei Senar, als er dies zum ersten Mal sah, maßloses Staunen ausgelöst hatte.

Aus Berichten anderer Reisender erfuhr das Pärchen, dass die Fremden alle größeren Städte und Dörfer besetzt und die jeweiligen Beauftragten hingerichtet hatten.

In den vier Residenzstädten, so wurde erzählt, waren von den Passager riesige Stützpunkte errichtet worden.

Jeder, der sich den Eroberern in den Weg stellte, wurde mit Waffen, die über große Entfernung hinweg töten konnten, umgebracht.

In der Herberge von Sal`Kondra, einem kleinen Dorf 40 Landmeilen südlich von Ma`Desch, lauschten Senar und Erdena zusammen mit den anderen Gästen gebannt dem Bericht eines Reisers. Dieser hatte vor wenigen Stunden mit viel Glück aus der Residenzstadt, die von den Fremden abgeriegelt worden war, fliehen können.

"... dann sind sie in das Haus des Informierten Machal, seine Seele möge Friede finden, eingedrungen. Die Garde des Erhabenen haben sie innerhalb weniger Sekunden mit einem Rohr, das auf einem ihrer Wägen aufgestellt war, getötet.

Als die Fremden dieses Ding auf Machals Gardisten richteten, hat es gekracht, wie wenn ein Schmied auf den Amboss schlägt, nur viel schneller. Die Männer wurden in Sekunden zerfetzt. Sie konnten sich nicht einmal wehren und ich sage euch, diese Waffe schlug Löcher in die Mauern des Hauses, die so groß waren wie meine Faust."

Ein ungläubiges Raunen ging durch die Zuhörerschar.

Mit einem großen Schluck Fomt spülte der Reiser das Grauen hinunter, bevor er fortfuhr.

"Ich habe in Ma`Desch gehört, dass alle Informierten tot sind, von den Fremden umgebracht! Jeder, der ihnen im Weg ist, wird beseitigt, sie kennen kein Erbarmen!"

Der Reiser nahm wieder einen kräftigen Schluck Fomt und stellte den Becher dann mit zitternden Händen auf den grob gezimmerten Tresen zurück.

"An den Hauswänden haben sie Schriften angebracht, auf denen steht, dass alle Dörfer und Städte einen Stadthalter bekommen, dessen Anweisungen bedingungslos zu gehorchen ist."

Empörtes Gemurmel erhob sich unter den Gästen der Herberge. Die meisten hatten inzwischen ihren Platz verlassen und standen am Tresen bei dem Reiser, um ja kein Wort zu versäumen.

Erdena und Sen löffelten an einem Tisch in einer Ecke des Gastzimmers ihre Suppe. Sie hielten sich im Hintergrund, hatten aber jedes Wort mitbekommen.

Die junge Frau legte größten Wert darauf, nicht aufzufallen. Es bereitete ihr noch große Schwierigkeiten, ihre starke charismatische Ausstrahlung zu verbergen. Mit Unbehagen erinnerte sich Erdena an den vergangenen Tag, als sie und Senar die Herberge betreten und um ein Zimmer gebeten hatten.

Alle Gespräche waren plötzlich verstummt. Die Gäste hatten die Ankömmlinge angestarrt, als wäre der Immerwährende Beschützer persönlich erschienen.

Der Wirt war kaum in der Lage gewesen, ihre Namen in das Buch einzutragen, weil seine Hände so zitterten und die Zimmermagd hatte die junge Heilerin nicht einmal anzublicken gewagt.

"Wie willst du unter diesen Umständen bis nach Grat`Hala kommen?" unterbrach Senar flüsternd die düsteren Gedanken seiner

Gefährtin.

"Was?"

"Hörst du nicht zu? Der Reiser hat gesagt, dass alle Residenzstädte abgeriegelt sind. Keiner kommt ohne Kontrolle raus oder rein."

"Wir finden schon einen Weg, überlass das ruhig mir. Und nun sei still, ich will hören was er sonst noch zu erzählen hat!"

Die junge Heilerin legte ihrem Freund die Hand auf den Oberschenkel, um zu zeigen, dass ihre Worte nicht als Zurechtweisung gemeint waren.

Sie hat sich sehr verändert, dachte Senar, während er seine Gefährtin unauffällig musterte.

Trotz der abgetragenen Sachen, die Erdena anhatte, wirkte sie immer gepflegt, auch stank sie nicht mehr, da sie sich seit neuesten regelmäßig wusch.

Der Jüngling errötete, als er daran dachte, wie unbefangen sie sich bei der Körperpflege vor ihm entblößte und was er bei diesem Anblick empfand.

"Hast du das gehört?" drang ihre Stimme in seine Gedanken.

"Was? Äh, nein, ich habe gerade über etwas nachgedacht", gab er verlegen zurück.

Sie schaute ihm prüfend in die Augen. Unter ihrem Blick fühlte sich Senar wie ein ertappter Sünder. Ein warmes Lächeln überzog ihr Gesicht, das wesentlich voller und fraulicher geworden war, in letzter Zeit.

"Ich glaube, wir müssen jetzt einmal miteinander reden, komm' mit auf das Zimmer", sagte sie in ihrer bestimmenden Art und stand auf.

Nun wurde es ihm mulmig. Hatte sie seine Gedanken gelesen?

"Es, es ist nicht so wie du denkst, Era, ich dachte nur..." stammelte er verlegen.

Ohne ihn ausreden zu lassen, packte sie ihn an der Hand. Widerwillig ging er mit ihr nach oben auf das gemeinsame Zimmer.

Sie schloß die Türe. "Setz dich!"

Linkisch nahm er auf einem einfachen Holzstuhl, der beim Tisch stand, Platz.

"Ich wollte schon lange mit dir darüber sprechen und glaube, dass ich es jetzt nicht länger aufschieben darf."

"Worüber, Era? Habe ich etwas falsch gemacht?" fragte Senar und sah dabei aus wie die Inkarnation des schlechten Gewissens.

Ein flüchtiges Lächeln überzog das Gesicht der jungen Frau als sie ihren Begleiter so dasitzen sah, aber gleich wurde sie wieder ernst.

"Also pass auf," begann sie, "ich bin nicht mehr Era, jedenfalls nicht mehr die Era, die du kennst". 

Der junge Mann sah sie schweigend an. Erdena fasste das als Aufforderung an, fort zufahren.

"Die alte Denara lebt nicht mehr. Sie wurde das Opfer der Passager. Doch die Fremden konnten nur den Leib der Heilerin töten, ihr Geist fand Zuflucht in Eras Körper, wo beide Seelen zu einer Einheit verschmolzen."

Ein Grinsen überzog Senars Gesicht. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, dass es sich bei seiner Gefährtin seit neuestem um die alte Fettel handeln sollte.

"Erstens war Denara keine alte Fettel", wies Erdena ihn zurecht und bewies damit wieder einmal, dass seine Gedanken wie ein offenes Buch vor ihr lagen, "und zweitens habe ich nicht gesagt, dass ich jetzt Denara bin."

Das Grinsen verschwand so schnell von Senars Gesicht, als hätte er eine Ohrfeige erhalten.

"Also hör gut zu, ich werde dir alles von Anfang an berichten", sagte sie bedächtig, während sie sich auf dem zweiten Holzstuhl im Zimmer niederließ. Dann begann sie und ihr Gegenüber hörte mit wachsendem Staunen und ungläubiger Miene zu.

Als sie geendet hatte, herrschte minutenlanges Schweigen.

"Erdena?"

"Ja, Senar?"

"Stimmt das alles?"

"Natürlich, oder glaubst du, ich habe nichts besseres zu tun, als dir Märchen zu erzählen?"

"Dann sage mir bitte eines, was empfindest du nun für mich?"

Erdena rückte ihren Stuhl vor den Senars und nahm seine Hände in die ihren.

"Ich empfinde dasselbe für dich, wie Era für dich empfand", sagte sie ernst.

Ein glückliches Lächeln überzog Senars Gesicht, während er die junge Frau fest an sich drückte.

Erdena verspürte ein Gefühl, das sie bislang nicht gekannt hatte. Sie fühlte sich körperlich zu ihrem Gefährten hingezogen. Aus dem Halbwüchsigen war in letzter Zeit ein junger Mann geworden. Als sie dem Sohn des Schmiedes in die Augen schaute, musste sie zu ihm aufsehen.

Nach einer Weile ließ er sie los. "Wie soll es jetzt weitergehen?" fragte er dann.

"Darauf wollte ich gerade kommen. Unser Problem ist, dass es in ganz Grenn keinen Ort gibt, an dem wir sicher sind. Überall treiben sich Passager herum. Sie kontrollieren alle Straßen, sind in allen größeren Dörfern und Städten und bringen jeden, der ihnen gefährlich erscheint, sofort um.

Meine Persönlichkeit ist zwar ausgereift, aber ich habe mein Charisma noch nicht unter Kontrolle. Jeder der mir begegnet, spürt sofort die Macht, die in mir wohnt."

Erdena schaute ihren Gefährten einige Sekunden nachdenklich an,  bevor sie fortfuhr.

"Und du bist noch zu unerfahren, um als Kämpfer gegen die Heimsucher zu bestehen. Wir sind deshalb beide in großer Gefahr. Ich glaube nicht, dass ich uns unter diesen Verhältnissen auf Dauer vor den Fremden schützen kann. Unsere einzige Chance besteht darin, für zwei oder drei Jahre von Grenn zu verschwinden."

"Und wie soll das vor sich gehen?"

Die junge Frau verzog das Gesicht und lehnte sich mit ihrem

Stuhl zurück, bevor sie fortfuhr.

"Ich habe die Möglichkeit, diesen Zeitraum mit dir einfach zu überspringen. Für uns wird es so sein, als wäre nur ein Augenblick vergangen."

"Die Sache hat einen Haken", stellte der junge Mann nach einem Blick in die Miene seiner Begleiterin trocken fest.

"Ja, so kann man es ausdrücken", bestätigte Erdena. "Wir werden um wesentlich mehr als den übersprungenen Zeitraum altern."

"Was bei dir keine große Rolle spielt, weil du, wenn du alt und gebrechlich geworden bist, wieder eine Urenkelin heimsuchst",

feixte Senar grinsend.

"Offenbar hast du noch nicht begriffen, was ich dir sagen will, sonst würdest du jetzt keine Witze machen", schnappte die junge Frau und musterte ihren Gefährten ärgerlich, worauf Senar betreten schwieg.

"Schau, ich brauche dich doch als Begleiter", meinte sie dann versöhnlich. "Außerdem wirst du später sicher einmal eine wichtige Rolle im Freiheitskampf unseres Volkes übernehmen, aber dazu bist du jetzt noch zu jung und unerfahren."

Der Jüngling nickte nachdenklich, stand von seinem Stuhl auf und ging ruhelos im Zimmer auf und ab. Erdena schwieg, sie wusste, dass er sich nun endlich ernsthaft mit dem Problem auseinandersetzte.

"Wie soll denn unsere geistige Reifung, die deiner Meinung nach so notwendig ist, vonstatten gehen, wenn wir den übersprungenen Zeitraum nicht bewusst erleben? Ich meine, du kannst mir doch nicht erzählen, dass wir uns psychisch weiterentwickeln, wenn du uns innerhalb eines Augenblickes zwei Jahre in die Zukunft versetzt", meinte Senar skeptisch.

Das Mädchen machte ein säuerliches Gesicht.

"Ich habe nicht gesagt, dass ich uns in die Zukunft versetze. Wir überspringen die Zeit, indem ich uns in eine fremde Welt bringe. Dort ist jedoch der Ablauf der Zeit anders als hier. Wir werden ungefähr acht Jahre DORT verbringen müssen, bis hier zwei Jahre vergangen sind.

Und wir werden nicht mehr wissen, was wir während dieser Zeit erlebt haben, denn nach der Rückkehr in unsere Welt sind alle Erinnerungen an DORT ausgelöscht. Wir werden glauben, nur wenige Augenblicke fort gewesen zu sein."

Senars Miene verdüsterte sich zusehends.

"Verstehe ich das richtig? Wenn wir nach, sagen wir mal zwei Jahren, zurückkehren, sind wir um acht Jahre gealtert, ohne uns daran erinnern zu können, was während dieser Zeit mit uns passiert ist."

"Genau!" bestätigte Erdena. "Und das schlimme dabei ist, dass ich keine Ahnung habe, was uns in jener Welt erwartet. Es kann uns DORT alles mögliche zustoßen."

Senar schaute sie fragend an. "Wir sind nicht die ersten, die so etwas riskieren, nicht wahr?"

"Nein, es gab vor uns schon welche, die ebenso wie wir die Zeit betrügen wollten und nicht mehr von DORT wiederkehrten", gestand Erdena.

"Was geschah mit ihnen?"

"Von den meisten hat man nichts mehr gehört."

"Na fein. Und woher stammen dann eigentlich deine Informationen?" erkundigte sich Senar mißtraurisch.

Für einen Moment wirkte seine Gefährtin verlegen. "Das frage ich mich auch schon die ganze Zeit. Sie sind mir irgendwie... zugeflossen." Sie zuckte mit den Schultern.

"Zugeflossen... hm, na gut. Und wo liegt diese Welt, Erdena?"

Sie schaute ihn unergründlich an. "Sie ist hier und doch nicht hier. Ich kann es dir nicht erklären, du würdest es nicht verstehen."

Senar schaute seine Freundin durchdringend an. "Du erzählst mir von Sachen, die wohl nicht einmal die Erhabenen wissen oder begreifen. Wer bist du?"

Sie lächelte ihn fröhlich an. "Ich bin Erdena, die hier ist um die `hala zu retten und dich zu lieben."

Damit hatte sie dem Jüngling allen Wind aus den Segeln genommen.

Er errötete und sah verlegen zu Boden.

"Also, wollen wir es wagen?" fragte sie ihn, während ihre Augen unternehmungslustig blitzten.

"Du wirst es wohl wissen, wie es am besten ist", gab er sich geschlagen.

"Ich gäbe viel darum, dies zu wissen", gestand Erdena. "Ich weiß nur eines: dass wir hier unter den jetzigen Umständen nicht lange überleben. Wenn wir nach DORT gehen, haben wir wenigstens die Passager nicht mehr am Hals."

Im selben Moment kündigte ein schrilles Heulen von draußen die Landung eines Luftfahrzeuges an.

Senar und Erdena schauten sich bestürzt an. "Verdammt!" fluchte die junge Heilerin, als wenige Sekunden später Schreie, vermischt mit dem trockenen Hämmern von Passagerwaffen zu hören war.

"Der Wirt hat uns verraten", stieß Erdena hervor, nachdem sie kurz in sich hineingehorcht hatte. Traurig schüttelte sie den Kopf. "Ich hätte nie gedacht, dass sich `hala finden, die mit den Fremden gemeinsame Sache machen."

"Woher willst du wissen, dass es der Wirt war?"

Erdena blickte ihren Gefährten an, als hätte er eben eine sehr dumme Frage gestellt.

"Du hast seine Gedanken gelesen."

"Natürlich, und nun halt' dich an mir fest, ich bringe uns nach DORT. Beeile dich!" drängte sie ihn.

"Wie lange, Erdena?" sprudelte es aus ihm hervor.

"Zwei Jahre hier-Zeit müssten genügen."

Die nackte Angst stand ihm ins Gesicht geschrieben.

"Versprich mir, dass es nicht länger dauern wird!"

"Hör auf jetzt, Senar! Ich muss mich konzentrieren!"

Das Trampeln schwerer Stiefel war auf der Treppe zu hören. Sekunden später flog die Türe krachend aus den Scharnieren.

Die schwer bewaffneten Passager sahen noch zwei schemenhafte Körper, die von Wellen durchzogen wurden wie ein Spiegelbild im Wasser, in das man einen Kieselstein geworfen hatte.

Als sich die Waffen der Eindringlinge entluden, trafen sie nur noch die gegenüberliegende Wand, weil ihr Ziel hier nicht mehr existierte.

 

*

 

Schweigend starrten die beiden Informierten Termalnjong an, als er seine Ausführungen beendet hatte. Mares erhob sich aus seinem Sessel, um sich nochmals ein Glas Fomt einzuschänken.

"Kannst du dieses Ding nochmal herholen, damit wir es genauer betrachten können?" erkundigte sich Keliath.

Der Gnom machte ein Gesicht, als hätte man ihm eben vorgeschlagen, sein Geld einem Son`Thekischen Glücksspieler zur Aufbewahrung zu geben.

"Hast du mir nicht zugehört?" fragte er ärgerlich. "Ein Aschereide ist ein Symbiont, aber nur, solange man ihn beherrscht. Bei jeder Aktivierung versucht er, die Herrschaft über seinen Träger zu übernehmen. Es kostet alle geistige Kraft, ihn zu kontrollieren. Gelingt das einmal nicht, wird er zum Parasiten und der Träger sein Sklave. In seiner Gier lässt er dann den Wirtskörper nicht mehr zur Ruhe kommen, bis er ihn völlig verbraucht hat."

Der Gnom schwieg kurz und schloss dann nachdenklich:

"Irgendwann kommt für jeden Träger der Tag, an dem er nicht stark genug ist, wenn er mit seinen Symbionten die Liaison eingeht.

"Da pfeife ich auf die ganze Macht, die mir dieses Ding verleiht, wenn ich jedes mal um mein Leben fürchten muss, wenn ich es rufe", meinte Mares abfällig.

"Da ist was dran", bestätigte Termalnjong mit feinem Lächeln und fuhr fort: "Trotzdem brauchen wir noch einige Aschereide und geeignete Träger, damit wir den Kampf gegen die Heimsuchung aufnehmen können."

"Bei Letzteren hast du wohl an uns gedacht?" stellte Mares trocken fest.

Nach diesen Worten konnte sich der Gnom nicht zurückhalten, er lachte schallend und schien sich gar nicht mehr beruhigen zu können.

"Nein, wirklich nicht, mein Freund Mares," gab er zur Antwort, als er sich wieder einigermaßen beruhigt hatte, "die Aschereide würden euch euer bisschen Verstand in wenigen Sekunden umdrehen."

Die beiden Erhabenen machten ein beleidigtes Gesicht. Als Termalnjong dies sah, wiegelte er ab.

"Ihr verfügt über starke Gaben, was aber noch lange nicht heißt, dass ihr auch über einen starken Willen verfügt. Es gibt hier in Grenn außer der Hohen Mutter nur zwei, die geeignet sind, Träger eines Aschereide zu werden. Das ist die alte Denara, oder wie immer sie auch jetzt heißen mag und der Einäugige. Denara hat sich immer geweigert, sich so ein Ding aufzuhalsen, also bleibt nur der Einäugige."

Keliath machte ein überraschtes Gesicht. "Die Hohe Mutter gibt es wirklich? Ich dachte immer, sie existiert nur in der Phantasie einiger aufmüpfiger Heilerinnen. Wo lebt dieses Weibsstück?"

"Das ist jetzt nicht wichtig", antwortete der weißhaarige Gnom in einem Tonfall, der keine Widerrede zuließ.

"Gibt es außer dir noch jemanden, der in Symbiose mit einem Aschereide lebt?" fragte Mares.

"Ja, der Alte von Rhetana."

Mares schnaubte verächtlich. "Der muss doch längst tot sein. Der Informierten Dretam ist dem Alten einmal begegnet, wie ich aus seinen Aufzeichnungen weiß. Und Dretam ist vor über zweihundert Jahren gestorben."

"Sednadrang, der Alte von Rhetana, ist Hüter der Aschereide und besitzt das ewige Leben", belehrte Termalnjong den Informierten.

"Und wer ist der Einäugige? Von ihm habe ich noch nie gehört", erkundigte sich Keliath interessiert.

"Ich weiß es selbst nicht genau", bekannte Termalnjong. "In den Informationen, die mir der Schrein gab, ist die Rede davon, dass der Einäugige der Begleiter von Denara ist."

"Das ist doch alles Unsinn", meinte Mares. "Ich habe nie gehört, dass Denara einen einäugigen Begleiter hat."

"Außerdem", fuhr er anzüglich grinsend fort, "glaube ich nicht, dass sie sich in ihrem Alter jetzt noch einen sucht. Derartige Bedürfnisse wird sie wohl nicht mehr haben, oder was meinst du, Keliath?"

Der Angesprochene zuckte mit den Schultern. "Ich kann mir sowieso nicht vorstellen, dass sie noch lebt."

"Offenbar doch, denn der Schrein ließ mich wissen, dass Denara demnächst wieder einen Generationssprung vollziehen und dann einen jungen Körper haben würde", erklärte Termalnjong.

"Was heißt das?" fragte Keliath fassungslos.

"Nun, soweit ich den Schrein richtig verstanden habe, ist diese Frau in der Lage, in einen jüngeren Körper zu wechseln, wenn der alte verbraucht ist. Offenbar hat sie das schon einige Male hinter sich."

"Diese Hexe!" fluchte Keliath erbittert, als er wieder einmal erkennen musste, wie überlegen ihm die Alte doch war.

"Und woher weiß der Schrein das alles?" erkundigte sich Mares.

"Offenbar ist die Zukunft kein Geheimnis für ihn, aber lassen wir das jetzt, wir haben wichtigeres zu tun als hier herumzureden. Wir müssen Denara und ihren Begleiter, den Einäugigen, finden und zu den Aschereide bringen."

"Wer sagt, dass ich das muss?" fragte Mares trotzig.

"Niemand. Du kannst dich natürlich auch bequem zurücklehnen und dabei zusehen, wie deine Heimat und all´ das, an was du bisher geglaubt hast den Bach runtergeht", meinte Termalnjong vorwurfsvoll.

"Wir wollen uns dieser Aufgabe stellen, nicht wahr, Mares?" beschwor Keliath seinen Freund.

"Nun gut, wenn es so sein soll", gab dieser mürrisch nach und griff nach dem Becher Fomt, der vor ihm auf dem Tisch stand.

"Ich wusste es", meinte der Zwerg strahlend und leerte seinen Becher auf einen Zug.

Danach wischte er sich den Schaum vom Mund und meinte:

"Bevor ich es vergesse, der Schrein meinte, dass es einige Jahre dauern könnte, bis wir die beiden finden, weil sie momentan nicht in unserer Welt sind."

Keliath zog die Augenbrauen hoch und Mares starrte den Diener verwundert an.

"Wo sind sie dann?"

"Fragt mich nicht, ich weiß auch nicht mehr. Ich schlage vor, dass wir für einige Zeit untertauchen, denn in Fa`Senn warten bestimmt schon die Passager, um uns den Garaus zu machen.

Aus der Luft werden sie uns nicht noch mal angreifen, das ist ihnen zu riskant, denn momentan haben sie vielleicht noch nicht genügend Flugkörper, um sie leichtsinnig aufs Spiel zu setzen. Wir werden uns jetzt an einen sicheren Ort absetzen, und in einigen Monaten mit der Suche beginnen."

"Wie willst du von Bord kommen, etwa mit einem Ruderboot? Und überhaupt, wo sollen wir denn vor den Passager sicher sein, die finden uns doch überall", gab Mares zu bedenken.

Das laß nur meine Sorge sein!" meinte der Zwerg und streckte die rechte Hand aus, so als würde ihm jemand etwas geben.

Übergangslos schwebte ein winziger Punkt, der rasch zu einer pechschwarzen Kugel anwuchs, die alles Licht zu schlucken schien, über der ausgestreckten Hand des Dieners...

 

*

 

Einige Tage später legte die Sadre im Hafen von Fa`Senn an.

Das Schiff wurde bereits von schwerbewaffneten Passager erwartet. Sie durchsuchten es gründlich, ohne die Informierten oder den Diener des Schreines zu finden.

Diese waren spurlos verschwunden. Weder die Besatzung noch der Kapitän wussten, wohin. Daran änderten auch Folter und die nachfolgende Hinrichtung nichts.

 

3.Kapitel

 

DORT (Rückblende)

Mühsam versuchte Sansala mit ihrer Herrin Schritt zu halten. Das hübsche, engelsgleiche Gesicht der Sklavin war vor Anstrengung verzerrt, sie atmete keuchend. Ihre goldblonden Locken fielen schweißverklebt ins blasse Gesicht.

Das nur etwa vier Fuß große, zierliche Geschöpf schleppte einen Tragekorb, der fast der Hälfte ihres Körpergewichtes entsprach.

"Was ist, hast du keine Lust mehr? Soll  i c h  die Sachen tragen?" Die Stimme der Herrin klang gereizt. Sansala mobilisierte ihre letzten Reserven. Wenn sie den Unwillen ihrer Gebieterin erregte, würde aus dem lang ersehnten Besuch bei der Familie nichts werden.

"Ich komme schon", keuchte die Sklavin und beschleunigte ihre Schritte. Dabei stolperte sie und der Inhalt des Korbes ergoss sich auf die Straße. Frisches Brot, Fleisch und Obst rollten durch den Schmutz.

Im Gesicht der athletisch gebauten Frau war keine Regung zu erkennen, als sie das zierliche Persönchen mit einer Hand am Kragen packte und mühelos hochhob. Angstvoll starrte die Sklavin in die edlen Gesichtszüge ihrer Herrin, die Kälte und Grausamkeit ausstrahlten. Der Griff der durchtrainierten Frau schmerzte.

"Den Besuch bei deiner Sippe kannst du dir abschminken. Und nun heb´ die Sachen wieder auf!" Nach diesen Worten stieß die hoch gewachsene Gebieterin Sansala von sich.

Das Mädchen schlug mit dem Hinterkopf hart auf den Boden. Mit Tränen des Schmerzes und der Enttäuschung in den Augen sammelte es die Lebensmittel wieder auf und packte sie in den Korb. Hass und Verzweiflung übermannten die Sklavin.

"Meine Wut dem WERKZEUG", flüsterte sie leise und umklammerte dabei heimlich ihren Gebetskristall. Für einen Moment spürte Sansala ein leichtes Schwindelgefühl. Als es verschwand, war sie wieder völlig ruhig und ausgeglichen. Demütig, wie es ihre Herrin erwartete...

*

Er hatte das Gefühl, ins Bodenlose zu fallen. Funken tanzten vor seinen Augen und sein Magen drehte sich um vor Übelkeit, während jede einzelne Faser seines Körpers schmerzte. Mit einem lauten Schrei brüllte er seine Qualen hinaus, bis ein mörderischer Schlag sein Bewusstsein auslöschte...

 

Als er wieder zu sich kam, lag er auf einer Wiese. Die Sonne schien ihm ins Gesicht. Er hob den rechten Arm, um sein Auge vor den blendenden Sonnenstrahlen zu schützen. Soweit er blicken konnte, sah er nur Gras, Bäume und Sträucher.

In seinem Kopf schien sich alles im Kreis zu drehen. Mühsam versuchte er, seiner Verwirrung Herr zu werden und Ordnung in seine Gedanken zu bringen.

"Steh auf", wies er sich an. Einen kurzen Moment lauschte er noch dem dunklen, rauen Klang seiner Stimme nach, dann erhob er sich ächzend. Sein Körper fühlte sich bleiern an, er gehorchte ihm noch nicht richtig. Wie ein Automat setzte er sich in Bewegung, Schritt vor Schritt, ohne zu wissen, wohin er eigentlich ging.

Nach mehreren Stunden erreichte er einen kleinen See und trank von dem kristallklarem Wasser. Danach übermannte ihn die Erschöpfung. Er legte sich auf die warme Erde am Ufer und schlief sofort ein.

Er wusste nicht, wie lange er geschlafen hatte, als ihn ein Fußtritt weckte.

"He, ich habe dich gefragt, was du hier machst!"

Unwillig öffnete er sein heiles Auge und musterte damit die beiden Männer, die vor ihm standen. Sie trugen eine Uniform, die ihm vertraut vorkam. Nach einigen Augenblicken arbeiteten sich Erinnerungsfetzen in seinem Gedächtnis empor. Er glaubte zu wissen, mit wem er es hier zu tun hatte.

Geschmeidig erhob er sich, worauf die beiden Fremden unwillkürlich einen Schritt zurückwichen.

Vor ihnen stand ein gut sechseinhalb Fuß großer Hüne, dessen Körper eine massive, von dutzenden Narben übersäte Muskulatur aufwies. Seine langen, im Nacken zu einem dicken Zopf zusammengebundenen hellblonden Haare waren von einzelnen grauen Strähnen durchzogen. Eine steile Falte zwischen den Augenbrauen verlieh dem braungebrannten Gesichts einen markanten Ausdruck. An jener Stelle, wo eigentlich das linke Auge sein sollte, zog sich eine unansehnliche Narbe von der Braue zur Bake. Das Lid war zugenäht worden, um die leere Augenhöhle zu schützen.

Die fremdartige Kleidung des Einäugigen hing in Fetzen herunter und gab den Blick auf Wunden frei, die eben erst zu verkrusten begannen.

"Was wollt ihr von mir?" fragte der Hüne drohend, ohne die beiden anzusehen. Sein Blick ruhte prüfend auf dem Fahrzeug, das einige Schritte von den beiden entfernt stand.

"Wir stellen die Fragen, nicht du!" schnauzte ihn der Wortführer der beiden Uniformierten an und fuhr fort: "Also, wer bist du und was machst du hier?"

"Mit welchem Recht fragst du mich aus?" erkundigte sich der Einäugige gelassen.

"Leg den Typen um, Gomez, ich habe keine Lust, mich mit ihm rumzuärgern!" meinte der andere geringschätzig und ging zum Fahrzeug, so als sei die Sache für ihn bereits erledigt.

Der Mann, der von dem anderen Gomez genannt worden war, zog ein klobiges Ding aus dem Holster an seinem Gürtel und legte auf den Einäugigen an.

Dieser griff mit einer Bewegung, die so schnell war, dass man sie mit dem Auge kaum verfolgen konnte, unter seinen Zopf und schleuderte ein dort befindliches Wurfmesser mit tödlicher Sicherheit auf sein Gegenüber.

Mit einem hässlichen Knirschen bohrte sich der Stahl durch den Schädelknochen zwischen die Augen des Gegners, der lautlos zusammensackte.

Der zweite hatte das Fahrzeug schon erreicht und wollte gerade einsteigen, als er hörte, wie der Körper seines Partners am Boden aufschlug.

Der Uniformierte drehte sich um und schaute zunächst den Toten und dann den Einäugigen fassungslos an.

Nach einigen Sekunden hatte er sich wieder gefangen. Seine rechte Hand fuhr zum Holster mit der Waffe.

"Ich würde mir das gut überlegen, Passager!" meinte der Hüne kalt und musterte sein Gegenüber abwartend.

Dessen ganze Überheblichkeit und Selbstsicherheit war schlagartig dahin. Der Soldat fühlte, wie die Angst in ihm hoch kroch.

Langsam ging der Einäugige auf ihn zu, während der Uniformierte immer weiter zurückwich.

Panikerfüllt versuchte er seine Waffe aus dem Holster zu ziehen, das mit einem Druckknopf verschlossen war.

Bevor er sein Vorhaben verwirklichen konnte, hatte ihn der Hüne erreicht und drückte ihm das Handgelenk zusammen, dass man das Brechen der Unterarmknochen hören konnte.

Mit einem schrillen Schrei ließ der Passager die Waffe fallen.

"Jetzt wollen wir uns einmal unterhalten und dieses mal stelle ich die Fragen", meinte der Einäugige und blickte sein Gegenüber scheinbar freundlich an.

"Natürlich, Herr!" bestätigte der Mann ängstlich.

"Gut, wie ist dein Name?"

"Mein Name? Ich heiße Redcliff."

"Also gut, Redcliff, welches Jahr schreiben wir heute nach der Zeitrechnung der `hala?"

Ein spöttisches Grinsen überzog für einen Augenblick das Gesicht des Passager.

"Die `hala schreiben das Jahr 9 nach der Heimsuchung."

Der Einäugige erstarrte. Das würde bedeuten, dass er fast 36 Jahre weg gewesen war. Senar ließ den Passager los und ging zu dessen Fahrzeug. Die Seitenscheibe als Spiegel benutzend betrachtete er sich lange. Als er sich wieder umdrehte, waren seine Gesichtzüge zu einer Grimasse des Schmerzes verzogen. Aus dem gesunden Auge bahnten sich Tränen ihren Weg.

Mit einem Faustschlag beendete er das Leben des Passager, der eben seine Waffe gezogen hatte und im Begriff war, abzudrücken.

Einige Stunden saß der Einäugige neben den Toten und starrte teilnahmslos vor sich hin.

Mehrmals hörte er aus dem Fahrzeug eine Stimme. Aus einer unerklärlichen Quelle floss dem Hünen das Wissen zu, dass die Passager die Möglichkeit hatten, sich über große Entfernungen zu verständigen.

Allmählich setzte sich in seinem vor Leid getrübten Bewusstsein die Erkenntnis durch, dass er sich in große Gefahr begab, wenn er noch länger hier bleiben würde.

Kurze Zeit spielte er mit dem Gedanken, abzuwarten und dann im Kampf mit einem Suchtrupp seiner Feinde den Tod zu finden.

Schließlich siegte aber doch sein Selbsterhaltungstrieb. Langsam stand er auf und und klopfte sich den Staub aus der Kleidung. Mit weit ausholenden Schritten ging er fort, ohne zu wissen, wohin er sich wenden sollte.